Chiffren im Schnee
brachte den Stoff in die Dépendance zu Madame Dubois, der Wäschegouvernante und alleinigen Herrscherin über die Lingerie. Hier wurde sämtliche Wäsche des Hauses gewaschen, getrocknet, gebügelt und gegebenenfalls auch ausgebessert.
Fräulein Hartlaub hatte mit Madame Dubois eine nicht enden wollende Fehde ausgetragen. Mindestens einmal pro Woche war ein Zimmermädchen mit einem Packen frisch gewaschener Wäsche zurück in die Dépendance geschickt worden, auf jedem Stück fein säuberlich ein Zettel angeheftet mit Vermerken wie «schlampig gebügelt» oder «falsch gefaltet» oder – der Favorit – «Fleckschatten», eine Wortschöpfung der Gouvernante, die auch als Einzige fähig war, Fleckschatten zu entdecken. Das alles hatte sich mit Annas Amtsantritt geändert, und zwischen den beiden Gouvernanten des Splendid herrschte zur allgemeinen Erleichterung bestes Einvernehmen.
Madame Dubois hatte zu jener Zeit in Paris gearbeitet, als der lebenslustige Prince of Wales die Stadt häufig besucht und dort eine wahre Euphorie für alles Britische ausgelöst hatte. Edward VII. war inzwischen tot, aber auf Madame Dubois’ anglophile Gefühle konnte man sich immer noch verlassen, das wusste Anna und trug ihre Bitte mit gebührendem Respekt vor.
« Mais oui, ma chère – natürlich werde ich Ihnen helfen. Wir wollen doch, dass sich ce pauvre officier anglais so wohl wie möglich fühlt. Was für eine wunderschöne Farbe. Sie haben so ein exquisites Auge, weshalb ich einfach nicht verstehe, warum Sie Ihre Haare so tragen, si triste! »
Madame Dubois zeigte für Annas sorgfältig gepflegten altjüngferlichen Stil kein Verständnis, weshalb diese hastig das Gespräch auf die Näharbeit zurückbrachte. Sie erhielt die Zusicherung, dass die neuen Vorhänge bis zur Anreise des «pauvre officier» fertig wären.
Auch Herr Ganz war mit Lieutenant Wyndhams bevorstehender Ankunft beschäftigt. Er war dabei, Jost den letzten Schliff zum Valet zu geben, und zeigte dabei nicht nur Hingabe, sondern auch Mut. Aus unerfindlichen Gründen erachtete er es auf einmal für nötig, dass Jost die Kunst des Rasierens erlernen sollte. Annas Hinweis, dass Friseur Schildknecht jederzeit für Barbierdienste ins Splendid kam, wurde nicht beachtet.
Nachdem sämtliche männlichen Angestellten, die bereits über Bartwuchs verfügten, das Weite gesucht hatten, stellte sich Herr Ganz für die ersten Versuche selbst zur Verfügung. Als Anna ihn danach zu Gesicht bekam, bewunderte sie seinen Einsatz und den gesunden Menschenverstand der geflohenen Kellner und Hausknechte. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, Jost zuerst beizubringen, wie man Knöpfe annäht und Krawatten bindet.
«Er wird’s schon noch lernen», erklärte Herr Ganz ergeben und schickte einen Pagen zur Apotheke, um einen Alaunstift zu kaufen. Dann holte er aus seiner Westentasche eine Postkarte hervor. «Henning hat geschrieben, er ist krank – nichts Schlimmes – und schafft es nicht, zur Eröffnung hier zu sein. Er sollte aber im Verlauf der nächsten Woche eintreffen. Nun, bis dahin kann Charles die Bar führen, es wird ja eh kaum Gäste haben.»
«Gut, da wird Herr Bircher sicher erleichtert sein. Ich glaube, er hat den ganzen Sommer über befürchtet, einer der Hoteliers an der Riviera würde Henning abwerben.»
«Das haben sie bestimmt versucht. Einen Bartender wie Henning findet man nur selten. Deshalb habe ich Herrn Bircher geraten, ihn halt einmal für eine Saison ziehen zu lassen, wenn er es denn unbedingt will. Wir hätten sonst riskiert, dass er dem Splendid ganz den Rücken kehrt.»
Das wäre in der Tat ein grosser Verlust gewesen. Herr Ganz wurde zwar manchmal etwas wortkarg, wenn das Gespräch auf die Etablissements in Berlin und Hamburg kam, in denen sein Landsmann ausgebildet worden war, aber Hennings Können stand ausser Frage. Anna erinnerte sich an die Klagen über die Bar während der Sommersaison. «Dieser Jean verstand nicht gerade viel von seinem Handwerk, nicht wahr?»
Herr Ganz schnaufte empört: «Nein, wirklich nicht. Etliche Stammgäste haben sich ganz besorgt nach Henning erkundigt.» Etwas sehnsüchtig fügte er hinzu: «Wenn ich mir vorstelle, was für einen Valet Henning abgeben würde. Er hat ja mal in einem Herren-Club in London gearbeitet.»
Anna musste ihm zustimmen, wenngleich sie bei sich dachte, dass Henning zumindest eine Eigenheit aufwies, die dem Lieutenant vielleicht nicht gefallen würde – doch darüber sprach
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