Chill mal, Frau Freitag
ich damals eine interessante Anregung. Im Kapitel »Rauer Umgangston: Ich sag am liebsten Arschloch« hieß es: »Schimpfwörter sind aus dem alltäglichen Umgang nicht zu verbannen . « Heute frage ich mich, warum eigentlich nicht? »Deshalb gilt es zu verdeutlichen, welchen Sinn und welche Bedeutung die Verwendung von Schimpfwörtern haben kann, wie z.B. Spaß, Kränkung oder Diskriminierung.« Und weiter: »Mit dieser Methode dürfen die Schüler in der Schule etwas, was sonst verpönt oder sogar verboten ist, nämlich schimpfen. Allein durch das Herausholen aus der Verbotszone werden viele Schimpfwörter uninteressant und ihr Bedeutungsgehalt durch die Besprechung erst klar.«
Das klang super. Das klang so modern, so fortschrittlich, so viel besser als einfach zu verbieten, bestimmte Wörter in der Klasse oder in meinem Beisein zu benutzen. Ich war Feuer und Flamme, als ich das las. So begeistert, dass ich gleich beim nächsten Elternabend – als es wieder einmal um Beleidigungen ging – ganz souverän versprach, dass ich in den kommenden Ethikstunden das Thema bearbeiten und so das Problem Beleidigungen lösen würde.
In der nächsten Ethikstunde schrieb ich dann auf mehrere DIN-A3-Blätter:«Diese Beleidigungen kommen in unserer Klasse vor« – bei dieser Aufgabe konnten die Schüler sogar in Gruppen zusammenarbeiten, super! Ich schrieb den geplanten Ablauf der Stunde an die Tafel:
Schimpfwörter aufschreiben.
Bedeutungen klären.
Diese Beleidigungen verletzen mich, diese nicht.
Sortieren der Schimpfwörter.
Jetzt hatte ich sogar einen informierenden Stundeneinstieg. Ich war ganz berauscht von meiner hervorragenden Unterrichtsplanung. Auf die Innenseite der Tafel zeichnete ich eine Tabelle mit folgenden Spalten: »Witzig« – »Verletzend« – »Diskriminierend« – »Gegen Einzelne gerichtet«. Und dann wartete ich.
Als die Schüler in den Raum stolperten und an die Tafel guckten, schienen sie aufgeregt und neugierig. Ich erklärte ihnen den Ablauf und fragte: »Welche Beleidigungen verletzen euch am meisten?«
»Alles über meine Mutter«, sagte Abdul.
Mehmet: »Gegen meine Familie.«
Wir stellten fest, dass alle es schlimm finden, wenn jemand etwas Gemeines über die Familie und tote Verwandte sagt.
Dann gab ich den Schülern die vorbereiteten Blätter und Filzstifte. Sie stürzten sich übereifrig darauf und fingen sofort an zu arbeiten. So gierig habe ich noch keinen Schüler einen Arbeitsauftrag erledigen sehen. Ich musste sie immer wieder bitten, leiser zu sein, so sehr arbeiteten sie sich in Rage: »Frau Freitag, wir brauchen mehr Papier.« Ich rannte durch den Raum und verteilte an jedem Tisch mehr und mehr Blätter. Dabei hatte ich ihnen extra dünne Filzstifte gegeben und keine Marker, damit möglichst viel auf ein Blatt passte.
Nach 20 Minuten wollte ich eine erste Auswertung vornehmen. »Nein, nein, wir sind noch nicht fertig«, schrien die Schüler. »Wir brauchen noch mehr Papier!« Alle kicherten aufgeregt und brüllten durcheinander: »Ich hab noch eins, hier, hier gib mal her.« Selbst Elif, eines meiner drei Kopftuchmädchen, das gerade vom Gymnasium zu uns gekommen war und nicht mit auf die Klassenfahrt kommen durfte, war voll bei der Sache.
Die Schüler schrieben und schrieben. Raifat, der sonst nur das Datum und seinen Namen aufs Papier brachte, wollte unbedingt ein eigenes Blatt. Justin und Peter, die sich fast immer stritten, arbeiteten konzentriert zusammen. Einerseits war ich völlig begeistert, andererseits wurde mir etwas mulmig. War das wirklich eine so gute Idee gewesen?
Kurz vorm Ende der Stunde setzte ich dann doch noch eine kurze Auswertung durch: »So, nun guckt mal alle an die Tafel«, sagte ich. »Den ersten Punkt haben wir bereits abgearbeitet: Schimpfwörter aufschreiben«, las ich vor und setzte einen Haken dahinter. »Darf ich vorlesen?« – »Nein, ich zuerst!« – »Nein, ich!« – Wieder schrien alle wild durcheinander.
»Moment, Moment, guckt erst mal hierher. Ich habe hier eine Tabelle vorbereitet …« Ich klappte die Tafel auf: »Hier sind mehrere Kategorien. Jetzt wollen wir mal sehen, in welche Spalten welche Schimpfwörter passen. Peter, lies die Kategorien doch mal vor!«
Schnell war geklärt, was »diskriminierend« bedeutet. Ob die Schüler das verstanden haben, weiß ich nicht, in dieser Phase der Stunde hätten sie mir auch garantiert, die Relativitätstheorie begriffen zu haben, wenn sie dafür ihre Arbeitsergebnisse hätten vorlesen
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