Chill mal, Frau Freitag
Unterscheidungsvermögen (mumayyiz) ist ebenfalls gültig.« Ah, da haben wir es! Meine Schüler sind überhaupt nicht verpflichtet zu fasten: Kein einziger befindet sich im Voll besitz seiner geistigen Kräfte. Und: »Unbedingt zu vermeiden sind üble Nachrede, Verleumdung, Lügen, Beleidigungen aller Art, ferner solche Handlungen, die zwar nicht verboten (expressis verbis) sind, die aber Unachtsamkeit in sich oder bei anderen erregen könnten.«
Super, das liest sich ja wie meine Klassenregeln. Und wenn das auch noch im Koran steht, dann kann ja in den ersten Wochen nichts schiefgehen. Wer sich nicht daran hält, bekommt die von mir höchstpersönlich auf die Stirn tätowiert (im Kunstunterricht – verbuche ich unter Grafik).
Aber ein winzig kleiner Teil von mir freut sich auch auf die Schüler. Neulich habe ich vom Lieblingsschüler geträumt, wir waren zusammen bei einem Vortrag – irgendwas Politisches – und er war voll dick! Sah gar nicht mehr gut aus! Ich bin vor Schreck aufgewacht. Ein Alptraum.
3.
Ein neues Schuljahr beginnt
Der erste Schultag
Ich komme mir vor wie einmal Vollwaschgang, Schleudern und dann aus dem vierten Stock auf die Straße geschmissen. Verschwitzt, dehydriert und völlig verwirrt. Erste Stunde mit meiner Klasse. Stundenplan ansagen, neue Lehrer, neue Räume, neue Kurseinteilung, neue Fächer. Alles dauert, kaum einer hat irgendwas dabei: » Tschüch , ich dachte, heute is noch nich so richtig.« – »Ich schreib den Plan dann später von Elif ab.« – »Zeugnis – oje, hab ich vergessen.« – » Abó , wieso, haben wir heute Sport?« (»Tschüch« und »abó« sind türkische Ausrufe absoluter Ungläubigkeit. Gebraucht werden sie vor allem, wenn einem unzumutbare Ungerechtigkeit widerfährt.)
Ich habe extra den Tafelanschrieb vom letzten Schultag nicht weggewischt. Da steht: »Der Unterricht beginnt in der zweiten Stunde. Alle brauchen ihr Sportzeug.« Ich hätte sie doch alle noch mal anrufen sollen. Und seit wann muss man das unterschriebene Zeugnis vorzeigen? Seit der ersten Klasse!
Nicht aufregen – sie sind halt so. Wer hatte mir noch versprochen, dass sie in der Neunten ganz anders sind? Leider sind sie nur ge-, aber nicht erwachsen.
Zweite Stunde, Kunstunterricht in der 10. Klasse. Gefühlte vierzig Schüler betreten den Raum, und es werden immer mehr.
»Ich muss hier auch noch rein.«
»Du stehst aber nicht auf der Liste.«
»Ich bin hier neu und die im Büro haben mir gesagt, dass ich zu Ihnen soll.«
Okay, Materialliste – abschreiben! Hier die erste Aufgabe für heute. Vorlesen! Da sind Blätter. Anfangen!
»Ich habe keinen Bleistift.« – »Ich hab kein Bleistift.« – »Ich hab auch keinen.« – »Ich auch nicht.«
»Leute, warum habt ihr keine Arbeitssachen mit?«
»Wir wussten ja nicht …«
Ein eher schleppender Anfang. Aber schon leiser als in meiner eigenen Klasse. Nach der Stunde rauchen, dann meine erste Freistunde. Fachlehrerkollegen, ohne Klasse und somit ohne Sorgen, kommen frisch erholt auf mich zu:«Haste mal?« – »Kannste mal?« – »Weißte mal?« Im nächsten Leben werde ich auch Fachlehrer. Da gibt man seinen Unterricht und fertig. Als Klassenlehrer ist man für alles, was seine Schüler machen und vor allem nicht machen, verantwortlich. Das nervt total.
Ich jedenfalls hänge apathisch in meinem Stuhl. Plötzlich kommt Kollege Lamprecht: »Frau Freitag, du hast eine neue Schülerin, die steht draußen.« Ich zur Schülerin: »Ja, hallo, du bist also neu? Guck mal, da laufen zwei Jungs aus deiner neuen Klasse. Abdul und Emre, nehmt sie mal mit! Seid höflich!«
Zurück im Lehrerzimmer. Ich will mich entspannen. Da kommt Sabine, eine Schülerin aus meiner Klasse: »Frau Freitag, wir haben Informatik, aber Herr Johann sagt, wir haben nicht bei ihm.«
»Warte, ich checke das mal.« Mist, der Stundenplan ist im Klassenzimmer. Auf dem Weg dorthin wird die Schülerschar immer größer, auch Schüler anderer Klassen gesellen sich zu uns. »Was ist denn mit euch?« – »Wir haben auch Informatik.«
Erst Klassenraum, dann Vertretungsplan, dann Erkenntnis: Die Schüler haben eine Freistunde. Wie ich ja eigentlich auch. Ich gehe über den Hof, steuere das Lehrerzimmer an. Ich will Kaffee.
Dann das große Chaos. Schreiende Schüler rennen auf mich zu: »Alle sagen, wir haben jetzt Mathe und dann Geschichte, aber auf dem Plan stand doch, dass wir Musik haben.« Zurück zum Klassenraum – Scheiße, habe ich ihnen den Stundenplan
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