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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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herumzuführen schien. Ich wußte, es würde das einzige Mal zwischen uns sein, doch der Gedanke verursachte nur einen Hauch von Melancholie. Statt dessen überkam mich ein Gefühl der Unmittelbarkeit, der Erfüllung, das stärker war als meine Einsamkeit und mich sogar meinen Kummer über Armande vergessen ließ. Später würde noch genug Zeit zum Trauern bleiben. Für den Augenblick simples Erstaunen; über mich selbst, wie ich da so nackt im Gras lag; über den stillen Mann neben mir, über die Unermeßlichkeit über mir und die Unermeßlichkeit in mir. Wir lagen noch lange dort, Roux und ich, bis unser Schweiß abkühlte und kleine Insekten über unsere Körper krabbelten. Das Blumenbeet zu unseren Füßen duftete nach Lavendel und Thymian. Wir hielten uns an den Händen und betrachteten die unerträglich langsamen Bewegung der Himmelskörper.
    Ich hörte Roux ganz leise ein Lied singen:
    V’là l’bon vent, v’là l’joli vent ,
    V’là l’bon vent, ma mie m’appelle  …
    Der Wind war jetzt in meinem Inneren, zerrte an mir mit seiner alten Unnachgiebigkeit. Und im Zentrum vollkommene, auf wundersame Weise ungetrübte Stille, und das beinahe vertraute Gefühl von Veränderung … Auch das ist eine Art Zauber, etwas, das meine Mutter nie begreifen konnte, und dennoch gibt mir diese neue, wundersame, lebendige Wärme in mir eine Gewißheit, die ich noch nie zuvor empfunden habe. Und endlich verstand ich, warum ich die Liebenden gezogen hatte. Mit diesem Wissen im Herzen schloß ich die Augen und versuchte, von ihr zu träumen, so wie damals während der Monate vor Anouks Geburt, träumte von einer kleinen Fremden mit leuchtend roten Wangen und funkelnden schwarzen Augen.
    Als ich aufwachte, war Roux fort, und der Wind hatte sich wieder gedreht.
    Samstag, 29. März
    Die Nacht zu Ostersonntag
    Helfen Sie mir, Vater. Habe ich nicht genug gebetet? Nicht genug für unsere Sünden gelitten? Ich habe auf beispielhafte Weise Buße getan. Vom vielen Fasten und vom Schlafmangel ist mir ständig schwindelig. Ist die Karwoche nicht die Zeit der Erlösung, in der alle Sünden vergeben werden? Die silbernen Leuchter stehen wieder auf dem Altar, die Kerzen brennen in Erwartung der Auferstehung. Zum erstenmal seit Beginn der Fastenzeit schmücken Blumen die Kirche. Selbst der verrückte Franziskus ist mit Lilien gekrönt, die nach nacktem Fleisch duften. Wir haben so lange gewartet, Sie und ich. Sechs Jahre sind seit Ihrem ersten Schlaganfall vergangen. Schon damals haben Sie nicht mit mir gesprochen, sondern nur mit anderen. Dann, letztes Jahr, der zweite Schlaganfall. Man sagt mir, Sie seien unerreichbar,aber ich weiß, daß das nur Täuschung ist, ein Wartespiel. Wenn Sie bereit sind, werden Sie aufwachen.
    Heute morgen hat man Armande Voizin gefunden, Vater. Steif und immer noch lächelnd in ihrem Bett; noch eine, die uns verlorengegangen ist. Ich habe ihr die Letzte Ölung gegeben, obwohl sie es mir nicht gedankt hätte. Vielleicht bin ich der einzige, der in solchen Dingen noch Trost findet.
    Sie wollte sterben, sie hatte für den gestrigen Abend alles minutiös geplant, das Essen, die Getränke, die Gäste. Sie hatte ihre Familie um sich versammelt und hat sie mit dem Versprechen, sich zu bessern, hinters Licht geführt. Ihre vermaledeite Arroganz! Caro hat versprochen, für zwanzig, dreißig Messen zu bezahlen. Um für sie zu beten. Für uns zu beten. Ich zittere immer noch vor Wut. Ich kann ihr nicht mit Mäßigung begegnen. Am Dienstag ist die Beerdigung. Ich stelle mir vor, wie sie daliegt, in der Krankenhauskapelle aufgebahrt, von Pfingstrosen umgeben, das Lächeln immer noch auf den bleichen Lippen. Aber der Gedanke erfüllt mich weder mit Mitleid noch mit Befriedigung, sondern mit schrecklicher, hilfloser Wut.
    Wir wissen natürlich, wer dahintersteckt. Diese Hexe Rocher. Oh, Caro hat mir alles erzählt. Sie ist der böse Einfluß, mon père , der Parasit, der in unseren Garten eingedrungen ist. Ich hätte auf meinen Instinkt hören sollen. Hätte sie vertreiben sollen, als ich sie das erstemal zu Gesicht bekam. Diese Frau, die mir Knüppel zwischen die Beine wirft, wo sie nur kann, die hinter ihrem verhängten Fenster über mich lacht und alle möglichen Trottel dazu anstiftet, die Gemeinde zu unterwandern. Ich bin ein Narr gewesen, Vater. Armande Voizin ist wegen meiner Dummheit gestorben. Das Übel lebt unter uns. Das Übel trägt ein gewinnendes Lächeln und grellbunte Farben. Als Kind lauschte ich mit

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