Chocolat
während sie sich das Nachthemd überzog.
»Geschenke«, sagte Armande. »Legen Sie sie dort hin, wo ich sie sehen kann.« Eine vage Geste in Richtung Kommode. »Hmm. Das tut gut.«
Fast wie in Trance führte ich ihre Anweisungen aus. Vielleicht hatte ich auch mehr getrunken, als mir bewußt war, denn ich war vollkommen ruhig. An der Anzahl der noch im Kühlschrank vorhandenen Insulinampullen hatte ich festgestellt, daß sie vor einigen Tagen aufgehört hatte, das Medikament zu nehmen. Ich hätte sie gern gefragt, ob sie sich ganz sicher war, ob sie wirklich genau wußte, was sie tat. Statt dessen hängte ich Lucs Geschenk – ein seidener Schlüpfer in verwegen leuchtendem Rot – über die Stuhllehne, so daß sie es gut sehen konnte. Kichernd streckte sie eine Hand aus, um die Seide zu befühlen.
»Sie können jetzt gehen, Vianne.« Ihre Stimme klang sanft, aber bestimmt. »Es war wunderbar.« Ich zögerte. Einen Augenblick lang sah ich uns beide im Spiegel über der Frisierkommode. Mit ihrer neuen Frisur sah sie aus wie die alte Frau in meiner Vision, aber ihre Hände waren leuchtend rot, und sie lächelte. Sie hatte die Augen geschlossen.
»Lassen Sie das Licht an, Vianne.« Es war eine endgültige Aufforderung zu gehen. »Gute Nacht.«
Ich gab ihr einen Kuß auf die Wange. Sie duftete nach Lavendel und Schokolade. Ich ging in die Küche, um den Abwasch zu erledigen.
Roux war noch geblieben, um mir zu helfen. Die anderen Gäste waren gegangen. Anouk schlief auf dem Sofa, einen Daumen im Mund. Schweigend spülten wir das Geschirr, und ich stellte die neuen Teller und Gläser in Armandes Schrank. Ein- oder zweimal versuchte Roux, ein Gespräch anzufangen, aber ich konnte nicht mit ihm reden; nur das Klappern des Geschirrs durchbrach die Stille.
»Geht es Ihnen gut?« fragte er schließlich und legte zärtlich eine Hand auf meine Schulter. Seine Haare leuchteten wie Ringelblumen. Ich sprach aus, was mir als erstes in den Sinn kam.
»Ich hab gerade an meine Mutter gedacht.« Seltsamerweise stimmte das. »Das Fest hätte ihr gefallen. Sie liebte … Feuerwerke.«
Er schaute mich an. Seine seltsamen blauen Augen wirkten in dem schwachen gelben Küchenlicht beinahe violett. Ich wünschte, ich hätte ihm von Armande erzählen können.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie Michel heißen«, sagte ich schließlich.
Er zuckte die Achseln.
»Namen spielen keine Rolle.«
»Sie verlieren Ihren Dialekt«, sagte ich verwundert. »Anfangs hatten Sie so einen starken Marseiller Dialekt, aber jetzt …« Er lächelte sanft.
»Akzente spielen auch keine Rolle.«
Seine Hände umschlossen mein Gesicht. Weich für einen Handwerker, blaß und weich wie Frauenhände. Ich fragte mich, ob all das, was er mir über sich erzählt hatte, stimmte. In dem Augenblick war es mir egal. Ich küßte ihn. Er roch nach Farbe und Seife und Schokolade. Ich schmeckte Schokolade in seinem Mund und dachte an Armande. Ich hatte angenommen, er würde Joséphine lieben. Und auch während ich ihn küßte, wußte ich, daß er sie liebte, aber dies war der einzige Zauber, mit dem wir die Nacht bekämpfen konnten. Der primitivste Zauber, das Feuer, das wir in Beltane vom Berg mitbringen, in diesem Jahr ein bißchen früh. Ein kleiner Trost zum Trotz gegen die Dunkelheit. Seine Hände tasteten unter meinem Pullover nach meinen Brüsten.
Einen Moment lang zögerte ich. Es hat schon zu viele Männer in meinem Leben gegeben, Männer wie er, gute Männer, die ich gemocht, aber nicht geliebt habe. Wenn ich recht hatte und er und Joséphine zusammengehörten, waswürde es ihnen antun? Was würde es mir antun? Sein Mund war sanft, seine Berührungen unbefangen. Von draußen drang Fliederduft durch das offene Fenster, von der warmen Luft der Holzkohlenglut hereingetragen.
»Draußen«, flüsterte ich. »Im Garten.«
Er schaute zu Anouk hinüber, die noch immer auf dem Sofa schlief, und nickte. Gemeinsam gingen wir hinaus unter den klaren Sternenhimmel.
Die Holzkohlengrills verbreiteten immer noch eine sanfte Wärme. Die Blumen an Narcisse’ Pergola umhüllten uns mit ihrem Duft. Wir lagen im Gras wie Kinder. Wir versprachen uns nichts, er flüsterte mir keine Liebesschwüre ins Ohr, obwohl er sehr zärtlich war; beinahe leidenschaftslos liebkoste er mich mit sanften Händen, erkundete meinen Körper mit seiner Zunge. Der Himmel über seinem Kopf war so violett wie seine Augen, und ich sah das breite Band der Milchstraße, das wie ein Pfad um die Welt
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