Choral des Todes
den Musiker selbst befragt und unten auf dem Blatt mit Bleistift einige Notizen hinzugefügt. Götz hatte bis 1964 in Valparaiso Musik studiert. Klavier, Orgel, Harmonie- und Kompositionslehre. Anschließend hatte er sich in Santiago niedergelassen, wo er am Konservatorium Professor für Klavier geworden war. Er hatte damals am politischen Leben des Landes teilgenommen und Salvador Allende bei seinem Aufstieg zur Macht begleitet. 1973 folgte dann der Staatsstreich von Pinochet. Götz war verhaftet und verhört worden. Dann ein schwarzes Loch. 1987 tauchte Götz als anerkannter politischer Flüchtling wieder in Frankreich auf.
In zwanzig Jahren hatte sich der Chilene eine Existenz in Paris aufgebaut; er war Organist in etlichen Kirchengemeinden gewesen und hatte einige Chöre geleitet. Hinzu kam privater Klavierunterricht. Nicht gerade umwerfend, aber es genügte, um seinen Lebensunterhalt in der Hauptstadt zu sichern und dort die Annehmlichkeiten einer guten alten Demokratie zu genießen. Wilhelm Götz hatte den Traum jedes Einwanderers verwirklicht: in der Masse aufgehen.
Kasdan rief sich das Äußere des Chilenen vor Augen. Ein rotes Gesicht, schneeweißes Haar, eine hoch angesetzte kräftige Mähne, gekräuselt wie Schafsfell. Ansonsten keine besonderen Auffälligkeiten. Tief sitzende Augen unter dichten Brauen. Ein ausweichender Blick. Kasdan hatte ihm immer misstraut. Ein Odar – ein Nicht-Armenier …
Der Ex-Polizist verscheuchte diese unvermittelt in ihm aufschießenden rassistischen Gedanken. Ihm wurde klar, wie wenig Mitgefühl er für den Toten empfand. War er gefühllos? Oder war er einfach zu alt, um etwas zu empfinden? Im Verlauf seines Berufslebens hatte er sich ein immer dickeres Fell zugelegt. Vor allem in den letzten Jahren, bei der Mordkommission, wo kalte Körper und scheußliche Geschichten an der Tagesordnung waren.
Kasdan schaltete die Deckenleuchte aus, nahm aus dem Handschuhfach eine Stiftlampe Searchlight , Chirurgenhandschuhe und ein Stück von einer Röntgenaufnahme. Er stieg aus dem Wagen, verriegelte ihn und musterte im Vorbeigehen die Karosserie. Vorsichtig kratzte er ein kleines Häufchen Vogeldreck ab und betrachtete anschließend voller Zufriedenheit das Fahrzeug. Seit fünf Jahren hegte und pflegte er den Volvo-Kombi, den er sich bei seiner Pensionierung gekauft hatte. Tadellos.
Er ging die Avenue Reille in Richtung der Rue Gazan hinunter, entlang an dem eisernen Gitterzaun des Parks. Dabei atmete er die besondere Atmosphäre dieses Viertels ein, das an das 14. Arrondissement angrenzt. Ruhe. Stille. Wäre da nicht der ferne, dumpfe Lärm vom Boulevard Jourdan gewesen, hätte man glauben können, sich in einer Provinzstadt zu befinden.
An diesem 22. Dezember war die Luft beunruhigend mild. Diese unerklärliche Milde des Jahres 2006, die allen Menschen Angst einflößte, da sie in der mehr oder minder fernen Zukunft das Ende der Welt ankündigte.
Dieser Gedanke rief einen anderen hervor. Kasdan dachte an die künftigen Generationen. An seinen Sohn, David, von dem er seit zwei Jahren nichts gehört hatte – seit dem Tod seiner Frau Nariné. Ein Stich im Bauch. Wo war David heute? Befand er sich noch immer in Eriwan in der Republik Armenien? Als er fortgegangen war, hatte er angekündigt, dass er »Armenien erobern« werde. Als ob das nicht vor ihm schon Generationen von Eindringlingen beschlossen hätten …
Das Brennen in seinem Magen verwandelte sich in Wut. Man hatte ihm alles genommen – seine Familie und mit ihr die Möglichkeit, jene Mission zu schützen, die sein Leben fast dreißig Jahre lang bestimmt hatte. Hätte sich sein Zorn nur gegen den Himmel, gegen das Schicksal gerichtet! Aber er richtete sich im Grunde gegen ihn selbst. Wie hatte er seinen Sohn nur weggehen lassen können? Wie hatte er es zulassen können, dass Stolz, Zorn und Starrsinn sie auseinandergebracht hatten? Er hatte für seinen Sohn alles geopfert, und ein Krach, ein einziger, hatte genügt, um alle Brücken zwischen ihnen abzubrechen.
Die Rue Gazan kreuzte die Avenue Reille. Das Gebäude Nr. 15-17 befand sich einige Hausnummern weiter rechts, einer dieser hässlichen Häuserblocks aus den sechziger Jahren, deren Anblick schon genügte, um einen trübselig zu machen. Eine beige verputzte Fassade. Verdreckte Fensterscheiben. Verschmutzte Balkone mit Eisengittern. Der Chilene hatte diese Sozialwohnung zweifellos wegen seines Status als politischer Flüchtling erhalten.
Kasdan benutzte seinen
Weitere Kostenlose Bücher