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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Schild an der Pfostenspitze. Dann setzte er einen Fuß auf die Oberkante des ersten Schildes, stieß sich ab und sprang auf die Mauer des Speichers. Der ungelenke Mann bewies plötzlich eine überraschende Behändigkeit. Er rollte sich auf die Seite, erhob sich und lief mit sicheren Schritten weiter über die Mauerkrone. Das alles hatte keine fünf Sekunden gedauert.
    Kasdan widerstrebte es, das gleiche Husarenstück zu wagen. Zumal weder der Pfosten noch das Schild seinen hundert Kilo standhalten würden. Doch es war zu spät, um eine andere Lösung zu finden. Er überquerte die Straße. Griff mit einer Hand nach dem oberen Schild, zog sich mit einem Satz hinauf. Das Schild gab nach, doch mit der anderen Hand hatte er bereits die Mauerkrone erreicht. Er hielt sich an ihr fest, stützte sich mit einem Ellbogen ab, machte einen Klimmzug und rollte sich plump über die Seite ab. Er hustete, spuckte aus und stand auf. Heftiges Herzklopfen und ein Gefühl des Stolzes. Er hatte es geschafft.
    Er blickte auf. Der Flüchtige lief über den Gipfel des Hügelgrabs; seine Gestalt zeichnete sich deutlich vor dem pechschwarzen Hintergrund des Himmels ab. Eine kinematografische Vision. Würdig eines guten alten Hitchcock-Films. Der vor dem Nachthimmel laufende Schatten, eingerahmt von den beiden Aussichtsterrassen, die im Mondlicht glänzten.
    Ohne nachzudenken, eilte Kasdan die Steinstufen hinauf, schwang sich über das Eisengeländer der Außentreppe und stürmte zum Flachdach der Pyramide hinauf. Am Ende seiner Kräfte und außer Atem kam er oben an.
    Das, was er sah, raubte ihm den letzten Atem.
    Drei Hektar Rasen, ein echtes Fußballfeld, das über Paris schwebte. Die Lichter der Straßen unter ihm erzeugten einen unwirklichen Lichthof, der den Mayatempel in ein lumineszierendes Raumschiff verwandelte.
    Und dicht über dieser Fläche lief noch immer der Schatten, der die Einsamkeit des Menschen im Universum zu symbolisieren schien. Obwohl die Adern in seinem Kopf pochten und seine Lungen brannten, gestattete sich Kasdan noch einen kleinen ästhetischen Vergleich. Der Anblick erinnerte an ein Bild de Chiricos. Leere Landschaft, ins Unendliche laufende Linien. Allgegenwart des Nichts.
    Kasdan lief wieder los, schnaufend, am Rand der Ohnmacht. Er hatte jetzt Seitenstechen und Schmerzen in den Knien. Er überquerte die riesige Fläche, den Spiegel der Nacht, spürte die Weichheit des Rasens unter seinen Sohlen. Der kleine Mann lief noch immer vor ihm …
    Plötzlich hielt der Typ inne. Ein gläserner Pilz ragte vor ihm auf. Er beugte sich herab, hob eine Platte hoch, die im Mondlicht aufblitzte, und verschwand.
    Der Mann war in den Speicher von Montsouris gesprungen.

KAPITEL 6
    Der Armenier gelangte zu der Dachluke, die offen stand. Es war so, wie er vermutet hatte: Der Flüchtige kannte sich hier bestens aus. Es war ihm gelungen, das Klappfenster blitzschnell zu öffnen. Hatte er die Schlüssel dafür? Das alles war wie ein Albtraum. Kasdan presste die Hand auf die Stelle, wo er das Seitenstechen spürte, und stieg die Treppe hinunter, die direkt in die Finsternis führte.
    Spirale. Eisengeländer. Und dann schon die Feuchtigkeit. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und wartete, bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten und der Ort, an dem er sich befand, im Halbdunkel Gestalt annahm. Er wusste, wo er war. Im Fernsehen hatte er einen Dokumentarfilm über diesen Wasserspeicher gesehen. Ein Drittel des Trinkwassers, das die Pariser täglich verbrauchten, wurde hier gespeichert. Tausende von Hektolitern Quellwasser, von mehreren Flüssen abgezweigt, geschützt gegen Wärme und Verunreinigungen, bis die Pariser es zum Trinken, Duschen, Geschirrspülen etc. verwendeten …
    Kasdan hätte Zisternen erwartet, abgedeckte Becken. Aber das Wasser war da, zu seinen Füßen, ohne Abdeckung. Eine riesige grüne Fläche, gespickt mit Hunderten roter Säulen, die im Dunkeln schemenhaft zu erkennen waren. Zu dieser Nachtstunde stand das Wasser in den Becken sehr hoch. Offensichtlich nicht die Zeit, um eine Dusche zu nehmen. Kasdan zog seine Lampe heraus und senkte den Lichtkegel auf die Wasserfläche. Auf dem Boden des Beckens erkannte er Zahlen, die wie versunkene antike Mosaiken in die Füße der Säulen eingeschrieben waren: E 34, E 38, E 42 …
    Kasdan lauschte. Kein Geräusch aus der Tiefe der Höhle, abgesehen von einem sanften Plätschern und einem seltsamen tiefen Widerhall. Wo war der Flüchtige? Entweder schon über alle

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