Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
deshalb schreibe ich Ihnen diesen Brief. Ich weiß, wie schlecht Carmen sie behandelt hat. Sie wusste es selbst, wenn sie auch sehr spät zu dieser Erkenntnis gelangt ist. Weder mit dem Pferdehändler noch mit dem Schauspieler war sie glücklich, vielleicht am ehesten noch mit dem Comanchenhäuptling, dem sie angeblich sogar zwei Söhne gebar. Die Wahrheit hat sie mir nie verraten. Schon zwei Jahre, nachdem sie sich mit den Comanchen einließ, besiegten die Texas Rangers ihren Stamm, und sie kehrte nach Mexiko zurück. Sie zog ein paar Jahre als Tänzerin durch die Cantinas und Bodegas und schlüpfte bei mir unter, als sie zu alt für dieses Leben wurde. Mein Mann und ich besitzen eine Bodega in San Antonio. Sie half mir in der Küche und beim Bedienen und sprach immer öfter von Ihnen. ›Ob Jimmy wohl noch lebt? Wo er wohl wohnt? Ob er noch an mich denkt? Ich habe ihm großes Unrecht getan, Rosita, wenn ich es nur wieder gutmachen könnte.‹«
Wieder legte Clarissa eine kurze Pause ein. Als sie sah, dass Flagler ungeduldig wartete, las sie weiter: »Der Grund, warum ich Ihnen schreibe, Senor Flagler, sind die vielen angefangenen Briefe, die ich in ihrem Zimmer gefunden habe. Auch sie kannte Ihre Adresse nicht, schrieb Ihnen aber dennoch und fing so viele Briefe an Sie an, dass ich sie kaum zählen kann. Sie liegen in einer Schublade neben ihrem Bett und fange alle gleich an: ›Ich habe dir großes Unrecht angetan, Jimmy, und würde alles, was ich jemals besessen habe, dafür geben, es ungeschehen zu machen. Ich liebe dich noch immer.‹«
Diesmal beschwor Jimmy eine Unterbrechung herauf, als er heftig zu schluchzen begann und beide Hände vors Gesicht schlug. Sie wartete, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte, und fuhr fort: »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, Senor Jimmy, aber Carmen ist vor zwei Jahren von einem Frachtwagen angefahren worden und gestorben. Einige Leute behaupten sogar, sie wäre freiwillig in den Wagen gelaufen und hätte sich umgebracht. Ich kenne die Wahrheit nicht. Als ich ihren Schrei hörte und aus dem Haus rannte, sah ich sie im Staub liegen. Sie lebte noch und hielt meine Hand, als sie starb. Ihre letzten Worte waren › Te quiero, Jimmy! Ich liebe dich.‹ Diese Worte habe ich auch in ihren Grabstein meißeln lassen. Ich hoffe, das war in Ihrem Sinne. Wenn Sie jemals nach San Antonio kommen, würde ich mich freuen, Ihnen ihr Grab zeigen zu können. Ich grüße Sie herzlichst, Rosita.«
Clarissa gab dem weinenden Rancher den Brief und ließ ihn mit seinem Schmerz allein. In dieser schweren Stunde konnte ihm niemand helfen.
34
Clarissa schlief wenig in dieser Nacht. Immer wieder fragte sie sich, was wohl besser war: mit einem Brief vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden wie Jimmy oder nach einem Gerücht, wie es ihr Sam Ralston überbracht hatte, noch hoffen zu dürfen, um später umso mehr enttäuscht zu werden.
Nein, sagte sie sich beinahe trotzig, ihre Liebe zu Alex durfte nicht unerfüllt bleiben. Er lebte und würde sie finden, sobald Frank Whittler die Lust an seiner Hexenjagd verloren hatte. Oder war der Millionärssohn schon so verbohrt und beseelt von seinem Hass auf sie, dass er niemals aufgeben würde? Dieser Gedanke machte ihr am meisten zu schaffen, würde es doch bedeuten, dass sie und Alex immer auf der Flucht sein würden, selbst wenn sie trotz der großen Bedrohung zusammenfanden. Oder übernahm Frank Whittler nach seiner Hochzeit wichtige Aufgaben in der Canadian Pacific und hatte gar keine Zeit mehr für seinen privaten Rachefeldzug? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Eisenbahngesellschaft und sein Vater tatenlos dabei zusahen, wie er große Geldsummen für seine Rache verplemperte.
Wirre Gedanken, die in ihrem Kopf herumschwirrten, bis sie vor lauter Erschöpfung einschlief. Erst das Gackern der Hühner am frühen Morgen weckte sie auf. Sie wusch sich und zog sich in aller Eile an, stapfte durch den Schnee zum Ranchhaus und bereitete das Frühstück. Sehr zur Freude von Ted und Rocky, die den Abend bei einer Flasche Whiskey in der Scheune verbracht hatte, servierte sie Rühreier mit Speck und Toast und noch stärkeren Kaffee als sonst, vor allem für Flagler, der überhaupt nicht geschlafen zu haben schien und dankbar einen großen Schluck nahm. An diesem Morgen erwähnte er weder den Brief noch Carmen.
»Ted, Rocky … ihr reitet auf die Winterweide und seht dort nach dem Rechten. Ich versuche, die versprengten Rinder zu finden, die
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