Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Männer von der Canadian Pacific suchen bestimmt nach mir.«
»Jetzt noch? Nach einem halben Jahr?« Der Rancher schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Die haben was anderes zu tun, als die Rachegelüste ihres Juniorchefs zu befriedigen. Aber keine Angst, wir treiben nicht über die Hauptstraße. Wir folgen einem alten Indianertrail durch die Ausläufer der Berge, da haben die Rinder genug Gras, und wir brauchen uns nicht mit den Mounties herumzuschlagen. Bei uns bist du sicher, Clarissa, sicherer als hier allein auf der Ranch.« Er zog grinsend die Riemen seiner schweren Satteltaschen fest. »Außerdem haben wir uns alle an deinen guten Kaffee gewöhnt.«
»Und Old Gabe bleibt zu Hause?«
»Alle Longhorns bleiben hier.«
Clarissa nickte zufrieden. Der Rancher hatte recht, abseits der Wagenstraße war sie tatsächlich sicherer als auf der Ranch, wo jederzeit ein Mountie oder jemand aus der Stadt auftauchen konnte. Wenn die Belohnung noch ausgesetzt war, gab es sicher genug Leute, die sich das Geld verdienen wollten.
Und sie wäre auf dem Weg nach Süden nur wenige Meilen von Alex’ Hütte entfernt. Während die Männer zur Bahnstation in Lytton ritten, konnte sie in die Berge reiten und nachsehen, ob Alex tatsächlich noch am Leben war und sich in seiner Hütte verkrochen hatte. Sie brauchte Gewissheit, denn sie wollte nicht wie der Rancher auf Umwegen erfahren, dass er tot war oder nichts mehr von ihr wissen wollte. Und sie wollte nicht länger abwarten.
Während des Trecks wechselte sie sich mit dem Rancher beim Führen der beiden Packpferde ab. Die Tiere folgten ihr willig und halfen ihr sogar dabei, den Schecken im Zaum zu halten. Jedes Mal, wenn er stehen blieb und zu lange an den grünen Schösslingen zupfte, stießen sie ihn ungeduldig an. Sobald Flagler die Packpferde übernahm, half Clarissa den Cowboys, die Herde auf dem Trail zu halten und eventuelle Ausreißer einzufangen. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht, preschte sie über die grünen Wiesen, das zusammengerollte Lasso in der rechten Hand, und trieb die Rinder zur Herde zurück. Einmal schaffte sie es sogar, einem jungen Rind, das sich in einem Gestrüpp verfangen hatte, die Schlinge über den Kopf zu werfen und es herauszuziehen. Flagler belohnte sie mit einem anerkennenden Blick. »Das wird noch!«
Die Tage waren alles andere als eintönig und so ereignisreich, dass Clarissa gar nicht merkte, wie die Zeit verging. Immer war etwas zu tun, blieben Rinder zurück oder nahmen Reißaus, führte der Trail einen besonders steilen Berghang hinauf oder an den Felsen entlang in ein tiefes Tal. Abends lagerten sie in Tälern oder Senken, die Flagler von früheren Treiben kannte, meistens dort, wo sie einigermaßen vor Wind und Wetter geschützt waren. Sie bereitete das Abendessen über einem kleinen Feuer, häufig gab es Bohnen mit Speck und Kaffee, den sie inzwischen perfekt zu kochen wusste. Sie hatte sich so an den starken Cowboykaffee gewöhnt, dass sie nicht einmal Tee mitgenommen hatte. Ihr Wasser schöpften sie aus Flüssen, Bächen und Seen, die im Frühjahr reichlich Wasser führten. Sie schliefen in ihre Decken gerollt auf dem Boden, benutzten ihre Sättel als Kissen und »deckten sich mit dem Himmel zu«, wie Flagler lächelnd bemerkte. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt.
Nachts wechselten sich die Männer mit der Wache ab. Alle drei hatten Gewehre dabei, hauptsächlich wegen der wilden Tiere, die vor allem den Jungtieren gefährlich werden konnten. Auch ein Grund, warum Clarissa die Kochstelle noch vor dem Schlafengehen gründlich säuberte und die Satteltaschen mit den Vorräten so hoch in die Bäume zog, dass die Bären nicht herankamen. Nach ihrem Winterschlaf waren die Grizzlys besonders hungrig.
Clarissa war von der Wache freigestellt, lag aber dennoch oft wach und blickte zu den Sternen empor, die hier in der Wildnis noch strahlender und intensiver in der Dunkelheit funkelten. Ein beinahe ehrfürchtiges Gefühl erfasste sie beim Anblick des endlosen Universums, in dem sich selbst die Planeten, der Mond und die Sterne zu verlieren schienen und ihr deutlich machten, welch ein winziger Teil des Universums die Erde war. Gab es dort draußen einen Gott oder gute Geister, wie die Indianer behaupteten, die sich Gedanken über sie machten? Die ihr halfen, dem Albtraum einer ungerechten Verhaftung zu entrinnen und Alex wiederzufinden? Die ihr das Glück zurückbrachten, das sie an seiner Seite gefunden hatte?
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