Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Sie schloss die Augen, ließ die Stille, andächtiger als in einer Kathedrale, auf sich wirken und betete still.
Das Wetter verwöhnte sie mit strahlendem Sonnenschein. Fast jeden Tag wölbte sich ein blauer Himmel über dem hügeligen Land, nur unterbrochen von einigen dünnen Wolkenfetzen, die vor allem zwischen den Gipfeln der fernen Berge hingen. Die milden Temperaturen und der laue Wind ließen sie die schneidende Kälte und die heftigen Blizzards des Winters vergessen und sorgten für eine gute Stimmung auf dem Trail. Sogar der mundfaule Rocky ließ sich zu einigen Scherzen verleiten, die allerdings meist so derb ausfielen, dass er sich ständig bei Clarissa entschuldigen musste. Sie verschwieg ihm, dass sie von den Fischern in Vancouver noch ganz was anderes gewohnt war.
Ungefähr fünfzig Meilen vor Lytton drang plötzlich der lang gezogene Pfiff einer Lokomotive über die Hügel. Clarissa zuckte bei dem Ton erschrocken zusammen und war dann auch mit ihrem Schecken beschäftigt, der bei dem ungewohnten Laut scheute und sie beinahe abgeworfen hätte. Doch sie war inzwischen eine geübte Reiterin und bekam ihr Pferd rasch wieder unter Kontrolle. Nicht jedoch ihre Gedanken, die sich bei dem Pfeifen mit den bedrohlichen Bildern des vergangenen Winters füllten, als sie nur ein paar Meilen von dieser Stelle entfernt vor Frank Whittler in die Wildnis geflohen war, einer gefährlichen und ungewissen Zukunft entgegen. Wieder drang ein Pfiff von der Bahnstrecke herauf, gefolgt vom heftigen Schnauben der Lokomotive, die Schwierigkeiten zu haben schien, die steile Strecke zu meistern.
Sie griff ihrem Schecken in die Zügel und blieb stehen, blickte sich ängstlich nach allen Seiten um, als wären Frank Whittler und seine Männer noch immer in der Nähe und sie müsste jeden Augenblick damit rechnen, von ihnen verhaftet zu werden. Doch niemand ließ sich blicken, und als der Zug in der Ferne verschwunden war, war sie wieder von beruhigender Stille umgeben. Sie drückte Pinto ihre Absätze in die Seite und ritt zögernd weiter. Daher reagierte sie viel zu langsam, als eines der Rinder aus der Herde ausbrach und in einem Gestrüpp untertauchte. Flagler sprang ein, trieb es mit dem aufgerollten Lasso und lauten Anfeuerungsrufen zur Herde zurück. »Giddy-up! Go! Go!«
Sie bedankte sich kleinlaut. »Kein Wunder, wenn man die Canadian Pacific gegen sich hat. Hier in der Nähe ist es passiert. Wenn die Lokomotive nicht schlappgemacht hätte, wäre ich vielleicht gar nicht entkommen.« Sie blickte ihn an. »Würde es dir was ausmachen, wenn ich euch für ein paar Tage allein lassen würde?«
»Du willst nach Alex suchen.« Es klang mehr wie eine Feststellung.
»Zu seiner Hütte ist es nicht weit.«
»Ich hoffe, du findest was Besseres als einen Grabstein.«
»Das hoffe ich auch, Jimmy. Das hoffe ich auch.«
36
Es war ein seltsames Gefühl, den Wegen zu folgen, die sie im vergangenen Winter zu Fuß oder mit dem Hundeschlitten zurückgelegt hatte. Wo während ihrer Flucht noch tiefer Schnee die Hänge und Täler bedeckt hatte, blühten jetzt farbenprächtige Wildblumen auf tiefgrünen Wiesen, und wo ihr damals ein heftiger Blizzard die Sicht genommen hatte, leuchtete jetzt helles Sonnenlicht und ließ selbst die schroffen Berge in einem freundlichen Licht erstrahlen. Ohne den Schnee wirkten sie lange nicht mehr so wild und bedrohlich, und sie hatte beinahe das Gefühl, von ihnen willkommen geheißen zu werden.
Nach Bones hielt sie vergeblich Ausschau. Mit dem Schnee schien auch der geheimnisvolle Wolf verschwunden zu sein oder das Gefühl zu haben, nicht mehr gebraucht zu werden. Stattdessen ließen sich einige Hirsche und zahlreiche andere Waldtiere sehen, in den Baumkronen zwitscherten die Vögel, und über den Wildblumen flatterten farbenprächtige Schmetterlinge. Die Natur, bei ihrem ersten Besuch noch unter dem eisigen Atem des Wintergeistes erstarrt, war mit der Frühlingssonne zum Leben erwacht und bestärkte sie in der Hoffnung, Alex in seiner Hütte zu finden, erschöpft von der anstrengenden Flucht, aber am Leben und bereit, ihr in eine bessere Zukunft zu folgen. Eine andere Möglichkeit durfte es nicht geben. Er war am Leben, er musste am Leben sein, und sie würde ihn finden, egal, wo er sich aufhielt.
Wie gering die Chancen waren, ihn wirklich aufzuspüren, gestand sie sich nur widerwillig ein. Denn wenn er nicht in seiner Hütte war, hatte er sich entweder bei Indianern oder einem befreundeten
Weitere Kostenlose Bücher