Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
wie der Fallensteller in der Hütte verschwand und die Tür hinter sich schloss. »Schnell weg!«, flüsterte sie Pinto zu. Sie ritt den Weg zurück, den sie gekommen war, und hielt erst ungefähr eine Stunde später an, als sie sicher sein konnte, nicht mehr von Crazy Joe gehört oder gesehen zu werden. Sie rastete unter ein paar Bäumen, tätschelte ihrem Schecken dankbar den Hals und sagte: »Das hast du gut gemacht, Pinto! Diesem Crazy Joe möchte ich nicht in die Hände fallen. Aber so wissen wir wenigstens, dass man uns für tot hält. Fragt sich nur, ob Frank Whittler genauso denkt und ob es noch mehr Männer wie Crazy Joe gibt. Die sich die Belohnung verdienen wollen und weiter nach uns suchen. Wenn ich nur wüsste, wo Alex ist! Ich muss ihn finden!«
Doch zuerst einmal musste sie sich weit genug von der Hütte entfernen, um nicht zu riskieren, Crazy Joe über den Weg zu laufen, und einigermaßen ruhig schlafen zu können. Entschlossen ritt sie weiter. Sie vermied alle ausgetretenen Pfade, ritt querfeldein über Hügel und Täler, denen sie sonst aus dem Weg gegangen wäre, weil man dort nur langsam vorankam, und suchte sich abseits der Wiesen, auf denen noch die Hufabdrücke ihrer Herde zu sehen waren, einen Platz zum Lagern. Im Schatten einiger Fichten, weit genug vom Trail entfernt, um nicht gesehen zu werden, aber selbst in der Lage, jeden Neuankömmling schon von Weitem entdecken zu können, breitete sie ihre Decken aus. Ohne ein wärmendes Feuer legte sie sich schlafen.
Es würde wohl drei bis vier Tage dauern, bis Flagler und die Cowboys aus Lytton zurückkehrten, und es gab nicht viel, was sie tun konnte. Ihnen entgegenzureiten, wagte sie nicht aus Angst, der Eisenbahn zu nahe zu kommen, für sie der Inbegriff der Bedrohung, weil es dort am ehesten Leute geben würde, die sie erkannten. Und wer wusste schon, ob Frank Whittler selbst das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, sie wäre erfroren, oder sie auf diese Weise nur aus ihrem Versteck locken wollte. Sie blieb der Eisenbahn lieber fern und vertrieb sich die Zeit mit Nichtstun, bis Flagler und die Cowboys erschienen.
Zu ihrer Erleichterung ließen sich keine anderen Männer in ihrer Nähe blicken, und ihr blieb genügend Zeit, sich von den Anstrengungen und der Anspannung der letzten Wochen und Monate zu erholen. Dass ihre Gedanken dabei auf Wanderschaft gingen und sie immer mehr verstörten und verwirrten, konnte sie nicht verhindern. War Alex noch am Leben? Wenn ja, wo versteckte er sich? Liebte er sie noch? Suchte er nach ihr? War Frank Whittler noch hinter ihr her? Wie groß war die Gefahr, dass man sie in Williams Lake entdeckte? Gab es noch eine Chance, dass Alex und sie zusammenfanden, oder sollte sie versuchen, gleich über die Grenze in die Vereinigten Staaten zu entkommen? Wo war Bones, ihr Schutzgeist, wenn sie ihn so sehr brauchte?
Ein ganzer Berg von Fragen, der sie zu erdrücken drohte. Dass es bis zur Rückkehr von Flagler und den Cowboys noch einige Tage dauerte und sie unendlich viel Zeit zum Nachdenken hatte, machte ihre Lage nicht besser. Erst vier Tage später, nach einem plötzlichen Wetterwechsel, brachte ein heftiges Gewitter ihr Leben wieder einmal vollkommen durcheinander.
Es begann damit, dass der Wind auffrischte und dunkle, fast schwarze Wolken aus Südwesten aufzogen. Wie eine bedrohliche Wand rückten sie näher, getrieben von dem Wind, der immer heftiger wurde und die ersten Regentropfen über das Land peitschte. Clarissa zog rasch ihren Regenmantel an, stellte den Kragen hoch und verknotete das Band ihres Stetsons unter dem Kinn. Mit den Stiefeln trat sie das Feuer aus, das sie in dieser Nacht entzündet hatte. Sie rollte die Decken zusammen und band sie hinter ihrem Sattel fest, legte ihre Arme um den Hals des Schecken und redete beruhigend auf ihn ein; »Ist doch nur ein Gewitter, Pinto! So schlimm wird es schon nicht werden!«
Fast im gleichen Augenblick zuckten mehrere Blitze vom Himmel, und ein Donnerschlag ließ den Boden erzittern, so laut und gewaltig, dass Pinto vor Schreck einen weiten Satz machte und sie zu Boden riss. Sie bekam gerade noch die Zügel zu fassen und hielt sich verzweifelt daran fest. Zum Glück hatte der Schecke im Unterholz keine freie Bahn und blieb schon nach wenigen Schritten stehen. Er zitterte am ganzen Leib und wieherte erschrocken. Er schien zum ersten Mal in ein so schweres Gewitter zu geraten und drehte sich nervös im Kreis, bis es ihr endlich gelang, ihn zu beruhigen.
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