Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
prüfend an. »Sie sind Glücksspieler?«
»Spieler, Abenteurer, Unternehmer … Wie es kommt.« Er zog ein Kartenspiel aus der Tasche, blätterte es von einer Hand in die andere und steckte es wieder ein. »Das Kartenspielen habe ich von meinem Vater gelernt, der besaß einen Saloon in Arizona und soll sogar Doc Holliday gekannt haben.«
»Doc Holliday?«
»Ein berüchtigter Spieler im Wilden Westen, der auch mit dem Colt umgehen konnte. Ich verabscheue Schusswaffen, ich kämpfe lieber mit meinem Verstand.« Er zog einen Zigarillo aus seiner Brusttasche, hielt ihn fragend hoch und zündete ihn an, als Clarissa zustimmend nickte. »Eine Zeitlang war ich als Bibelverkäufer unterwegs, das erfordert beinahe so viel Talent wie das Pokern, und manchmal ist es sogar gefährlicher. Ein Farmer wollte mich glatt erschießen, als ich ihm unsere Luxusausgabe unter die Nase hielt. Es wäre Gotteslästerung, gläubige Christen mit solchen Büchern übers Ohr zu hauen.«
»Und? Hatte er recht?«
»Natürlich hatte er recht, aber was sollte ich tun? Wir leben nicht mehr im Wilden Westen, und einträgliche Pokerspiele sind schwer zu finden. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich in anderen Berufen zu versuchen.«
»Und manchmal helfen Sie unschuldigen Ladys.«
»Sollte ich etwa zulassen, dass man Sie festnimmt und ins Gefängnis sperrt? Das hätte ich mir nie verziehen, Miss. Das wäre eines Gentleman unwürdig gewesen. Wenn ich eine Dame treffe, behandele ich sie auch so.«
»Mit ehrenwerten Absichten, wie ich hoffe.«
»Sie glauben doch nicht, dass …« Er ließ den Gedanken unausgesprochen und blickte sie durch den aufsteigenden Rauch von seinem Zigarillo an. »Sie beschämen mich, Miss. Ich würde mir niemals erlauben, Ihnen zu nahezutreten. Sie an meine Schulter zu drücken, war eine reine Vorsichtsmaßnahme und diente keinen anderen Zweck, als Sie vor dem Gefängnis zu bewahren.«
»Clarissa Howe«, schnitt sie ihm das Wort ab.
»Samuel J. Ralston«, erwiderte er. »Nennen Sie mich Sam!«
Von der Spitze des Zuges drang ein schriller Pfiff nach hinten. Ein Ruck ging durch den Zug, und die Wagen setzten sich in Bewegung. Das angestrengte Schnauben der Lokomotive war selbst durch die geschlossenen Fenster zu hören. Dichte Rauchschwaden zogen wie schmutziger Nebel vorbei. Als Clarissa nach draußen spähte und den Polizisten, dem sie auf der Robson Street begegnet war, auf dem Bahnsteig stehen sah, wandte sie sich rasch ab und blickte in die andere Richtung. Erst als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und am Ufer des Burrard Inlets entlang nach Osten fuhren, wagte sie wieder aus dem Fenster zu blicken. Zum ersten Mal fühlte sie sich beim Anblick der Gießerei und des Sägewerks seltsam beschwingt.
Außerhalb der Stadt waren sie schon bald von dunklen Wäldern umgeben. Bis dicht an die Schienen reichten die Fichten heran. Es hatte zu schneien begonnen, und die weit ausladenden Zweige waren bereits von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Der Wind wirbelte dicke Flocken gegen die Fenster, und immer, wenn ein Zweig den Zug streifte, schleuderte er feuchte Schneeschleier in die Luft. Vancouver war eine Insel. Während es dort noch relativ mild und trocken war, herrschte hier draußen bereits Winter, und je höher der Zug in die Berge hinauffuhr, desto stürmischer wurde das Schneetreiben.
Begleitet vom Schnauben der Lokomotive und dem rhythmischen Rattern der Räder kämpfte sich der Zug durch die Wildnis. Was für eine Strapaze musste der Bau der Eisenbahn für die Arbeiter gewesen sein. Unter unmenschlichen Bedingungen und für einen Hungerlohn, so hatte sie von einem Fischer gehört, dessen Sohn dabei gewesen war, hatte sich die Canadian Pacific durch British Columbia gekämpft, und Familien wie die Whittlers hatten davon profitiert, weil sie das billige oder enteignete Land an der Strecke zu Höchstpreisen verkauft hatten und im Besitz höchst profitabler Aktien waren.
Über Thomas Whittler und seine Frau konnte sie sich nicht beschweren. Natürlich hatte man sie von oben herab behandelt, wie ein Dienstmädchen eben, das bei solchen Leuten angestellt war, um ihnen die Arbeit abzunehmen, die sie nicht tun wollten, und ihren Dreck wegzuräumen. Aber er hatte ihr einen fairen Lohn bezahlt und einen freien Sonntag gewährt, wenn er nicht gerade eine Einladung gab, und sie hatte ihr immerhin ein Buch geschenkt, in einer Anwandlung von mütterlicher Fürsorge, wie sie annahm.
Wie in einigen anderen
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