Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Whittler zu rächen?
Das Quietschen der Bremsen ließ sie die Augen öffnen. Der Zug hatte eine weite Lichtung erreicht und hielt vor einem Giebelhaus, das in dem heftigen Schneetreiben nur schemenhaft zu erkennen war. Erst als der Zug direkt davor hielt, las sie den Namen »Yale« auf dem Ortsschild. Auf dem Bahnsteig waren keine Passagiere zu sehen, nur ein Stationswärter, der eine Fellmütze mit Ohrenschützern trug und den Kragen seines Wintermantels hochgeschlagen hatte. Er redete auf den Schaffner ein, der aus dem Zug gestiegen war und vor einem dem Nachbarwagen stand, und hielt ihm einen Zettel hin. Ein Telegramm von Frank Whittler, wie sie annahm. Der Schaffner warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. Anschließend stieg er wieder ein.
»Kein Grund zur Sorge«, beruhigte sie der Spieler, der die beiden Männer ebenfalls beobachtet hatte. »Da ging es bestimmt um das Wetter im Fraser Canyon. Sie haben den Schaffner gehört, wir werden sicher Verspätung haben.«
Tatsächlich ging der Schaffner an ihnen vorbei, ohne einen neugierigen Blick auf sie zu werfen. Sein Blick war vielmehr nach draußen gerichtet, in das Schneetreiben, das immer dichter und heftiger wurde und den Zug jetzt schon zwang, langsamer zu fahren. »Sauwetter!«, murmelte er vor sich hin.
»Sehen Sie?«, sagte der Spieler bester Laune.
5
Wäre Clarissa nicht auf der Flucht in eine ungewisse Zukunft gewesen, hätte sie während der abenteuerlichen Fahrt durch den Fraser Canyon vielleicht wie die anderen Passagiere aus dem Fenster geblickt und die urwüchsige Natur bewundert. Am linken Ufer des Fraser Rivers entlang dampfte der Zug durch den Canyon, eine zerklüftete Schlucht mit steilen, schroffen Felswänden, die in dem starken Schneetreiben bedrohlich nahe neben den Fenstern aufragten.
Der Fraser River war voller Schlamm und glänzte braun im fahlen Tageslicht, an den engen Stellen des Canyons verwandelte er sich in reißendes Wildwasser. Nur ein Dampfboot hatte es jemals durch die Stromschnellen geschafft. Auf der anderen Seite musste die verschneite Straße sein, über die unzählige Abenteurer während des großen Goldrausches von 1850 nach Norden gezogen waren. Der Zug hatte es einfacher, er fuhr alle paar Minuten durch einen der Tunnel, die meist chinesische Arbeiter erst vor ein paar Jahren aus dem Fels gesprengt hatten. In jeder der zahlreichen Kurven quietschten die Räder.
Ralston hatte recht, ging es ihr durch den Kopf. Erst in Calgary, wenn die Rocky Mountains hinter ihr lagen, würde sie Frank Whittler endgültig entkommen können. In die Staaten zu fliehen, war keine schlechte Idee. Sie war noch jung genug, um sich in einem anderen Land eine neue Existenz aufzubauen und vielleicht sogar eine einträglichere Arbeit zu finden. Als Haushälterin in einem Hotel vielleicht oder als Verkäuferin in einem Laden.
Vermissen würde sie das Meer und die Gedenkstätte, die sie für ihre Eltern geschaffen hatte. Beides blieb in ihrem Herzen. Ohne ein Grab, in dessen Erde man seine Eltern wusste, war es sowieso nicht wichtig, wo man ihrer gedachte. Sie würden ihre Gebete überall hören. Und vielleicht waren sie sogar stolz auf sie, weil sie einem Betrüger wie Frank Whittler entkommen war und ihr Leben selbst in die Hand genommen hatte. Aber noch war es nicht so weit. Noch trennten sie über zwanzig Stunden von der Ankunft in Calgary, und sie war dem Sohn des Managers noch lange nicht entwischt.
In Lytton wäre Clarissa am liebsten ausgestiegen. Auch der Stationsmeister der kleinen Stadt am Zusammenfluss von Fraser und Thompson River unterhielt sich eingehend mit dem Schaffner, und ihre Angst wuchs, Frank Whittler könnte inzwischen herausgefunden haben, dass sie mit dem Zug geflohen war, und die Polizei alarmiert haben. Obwohl der Zug ungefähr eine Stunde Aufenthalt in Lytton hatte, blieb sie erst einmal sitzen und zog ängstlich den Kopf zurück, als der Stationsvorsteher zufällig in ihre Richtung blickte. Erst als die Männer im Bahnhof verschwanden, wurde sie ruhiger und ließ sich überreden, mit dem Spieler das Restaurant gegenüber zu besuchen.
Sie revanchierte sich, indem sie ihm ein Mittagessen spendierte, und bewunderte sein vorbildliches Benehmen. Er benahm sich wesentlich gesitteter als die Whittlers oder andere wohlhabende Leute, die sie getroffen hatte. Zu ihm passten die übertriebenen Gesten, er wirkte sogar ganz natürlich, wenn er seinen kleinen Finger beim Teetrinken abwinkelte. Kein Mann, in den sie
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