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Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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nicht nur ärgerlich, sondern zutiefst verstört war.
    »Wollte ich ja«, erwiderte sie, »aber dann hast du mir deinen Traum erzählt und …«
    »Glaubst du wirklich, ich könnte Wolf etwas antun?«
    »Unsinn! Aber ich habe es gesehen. Du hattest eine Axt. Du standest über ihm und wolltest zuschlagen.« Der Traum hatte sie schon den ganzen Tag bedrückt, und es handelte sich keineswegs um einen gewöhnlichen Traum, der nicht unbedingt das bedeuten musste, was man zunächst dachte. Dieser Traum gehörte zu den in gleißende Farben getauchten Träumen, die sie ungefähr alle dreizehn Monde hatte. Solchen, die irgendwann wahr wurden.
    Jemand gab ihr ein Stück Robbenfleisch, und da merkte sie erst, dass sie vor Hunger schier umkam. Außer Robbe gab es köstliche Walfischschwarte mit einer leckeren Speckschicht, säuerliche Kügelchen aus zerstoßenen Weidenknospen, die aus den Mägen erlegter Schneehühner stammten, und einen süßen Brei aus Robbentalg und Multbeeren, der Renn am allerbesten schmeckte. Die Behausung war von Gesprächen und Gelächter erfüllt. Offenbar waren die Eisfüchse wahre Meister darin, ihre Sorgen zu vergessen und sich zu amüsieren. Beunruhigend war bloß, dass Torak in brütendem Schweigen neben ihr hockte.
    »Wenn wir uns streiten, finden wir Wolf auch nicht eher«, sagte sie. »Ich bin dafür, den Eisfüchsen vom Auge der Natter zu erzählen und …«
    »Ich bin dagegen.«
    »Aber vielleicht können sie uns helfen!«
    »Die wollen uns nicht helfen. Die wollen uns loswerden.«
    »Es sind gute Menschen, Torak!«
    »Gute Menschen können einen freundlich anlächeln und trotzdem eine schwarze Seele haben. Ich muss es wissen, ich habe es selbst erlebt!«
    Renn sah ihren Freund groß an.
    »Ich darf Wolf nicht noch einmal verlieren«, fuhr er fort. »Bei dir ist es anders. Du hast Fin-Kedinn und deine Sippe. Ich habe nur Wolf.«
    »Und mich.«
    »Das ist nicht dasselbe.«
    Renn schoss das Blut ins Gesicht. »Manchmal frage ich mich, wieso ich dich eigentlich gern habe!«
    Da rief eine beleibte Frau sie zu sich, damit sie ihre neuen Kleider anprobierte, und Renn ging hin, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Toraks Worte klangen ihr in den Ohren, als sie durch den Gang in eine der kleineren Hütten krabbelte, wo vier Frauen saßen und nähten. Bei dir ist es anders. Nein, das stimmt nicht!, hätte sie am liebsten gerufen. Weißt du nicht, dass ihr beide, Wolf und du, die einzigen Freunde seid, die ich je hatte?
    »Setz dich zu mir und beruhige dich«, sagte die Frau, die Tanugeak hieß.
    Renn warf sich verdrossen auf ein Rentierfell und rupfte ein Haarbüschel nach dem anderen aus.
    »Zorn ist dem Wahnsinn verwandt«, mahnte Tanugeak milde. »Außerdem vergeudet man damit unnötig Kraft.«
    »Manchmal braucht man das aber«, erwiderte Renn mürrisch.
    Tanugeak kicherte leise. »Du bist wie dein Onkel! Der war als junger Mann genauso aufbrausend.«
    Renn setzte sich auf. »Du kennst Fin-Kedinn?«
    »Er ist vor vielen Sommern bei uns gewesen.«
    »Warum? Was hattest du mit ihm zu tun?«
    Tanugeak tätschelte ihr die Hand. »Das musst du ihn selbst fragen.«
    Renn seufzte. Ihr Onkel fehlte ihr. Er hätte bestimmt gewusst, was zu tun war.
    »Solche Gesichte, wie du sie hast, können ziemlich gefährlich sein.« Tanugeak befühlte Renns Handgelenk. »Du solltest zu deinem Schutz Blitzzeichen tragen. Mich wundert, dass eure Schamanin noch nicht dafür gesorgt hat.«
    »Sie wollte ja. Aber ich habe sie nicht gelassen.«
    »Dann lass mich das übernehmen. Ich bin auch Schamanin. Du kannst die Zeichen bestimmt brauchen. Du bewahrst viele Geheimnisse in dir.« Tanugeak bat eine etwas abseits sitzende Frau um ihr Tätowierwerkzeug. Ehe Renn widersprechen konnte, hatte sie den Unterarm des Mädchens in ihren breiten Schoß gebettet, zog die Haut am Handgelenk straff und piekte mit einer Knochennadel ein Muster hinein. Zwischendurch tunkte sie ein Stück Möwenhaut in ein Gefäß und rieb schwarze Farbe in die kleinen Löcher.
    Anfangs tat es weh, aber Tanugeak erzählte eine Geschichte nach der anderen, um das Mädchen abzulenken. Bald war Renns Verdruss verflogen, und sie sorgte sich nur noch, dass Torak womöglich etwas Dummes tat – zum Beispiel dass er ohne sie weglief.
    Renn fühlte sich bei den Eisfüchsen geborgen. Auf der Schlafstatt lagen drei schlafende Kinder übereinander wie Hundewelpen, über der Tranlampe schaukelte ein Säugling in einer moosgepolsterten Robbenblase. Die Frauen schwatzten

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