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Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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und lachten, dass ihre Atemwölkchen um sie herumtanzten, nur die eine, die abseits saß und Akoomik hieß, beteiligte sich nicht daran. Als sich schließlich eine friedvolle Schläfrigkeit Renns bemächtigte, kam sie sich so liebevoll umsorgt vor wie noch nie, als würde die raue Schale, die sie sich zugelegt hatte, behutsam abgezogen.
    Tanugeak nahm sich das andere Handgelenk vor, und die übrigen Frauen breiteten die neuen Kleider aus, die sie für Renn angefertigt hatten, und strichen sie mit wettergegerbten braunen Händen glatt.
    Sie hatten dem Mädchen ein Paar Beinleder und eine Kapuzenjacke aus silbrig schimmerndem Robbenfell genäht, an deren Schulter das Clanabzeichen aus Rabenfedern befestigt war, dazu ein warmes Wams. Dann gab es ein Paar Beinleder, die man unter dem ersten Paar trug und die aus weichem Eiderentenbalg waren, und zwar mit der Federseite nach innen. Außerdem lagen da noch weiche Fäustlinge aus Hasenfell und derbere Handschuhe zum Drüberziehen, mit Schneehuhndaunen gefütterte Füßlinge, die man über weichen Strümpfen aus dem Fell junger Robben trug, und damit man sich keine nassen Füße holte, gab es prächtige Stiefel aus blank geschabter Robbenhaut, die mit geflochtenen Sehnen im Zickzack geschnürt wurden und gekrauste Sohlen hatten.
    »Ach, ist das schön!«, sagte Renn leise. »Leider habe ich gar kein Gegengeschenk.«
    Die Frauen machten erstaunte Gesichter und lachten. »Wir wollen keins!«, entgegnete die eine.
    »Komm in der Dunklen Zeit wieder her«, sagte eine andere, »dann nähen wir dir vernünftige Winterkleidung. Die Sachen hier sind nur für den Frühling.«
    Akoomik stimmte nicht in das Gelächter ein, sondern verstaute schweigend ihre Nadeln in einer kleinen Knochendose. Die Dose trug die Bissspuren winziger Zähne, und Renn erkundigte sich, wovon die Abdrücke stammten.
    »Die sind von meinem kleinen Sohn«, antwortete Akoomik. »Als er gezahnt hat.«
    Renn lächelte. »Hat er es inzwischen überstanden?«
    »O ja«, sagte Akoomik in einem Ton, von dem es Renn kalt den Rücken herunterlief. »Er hat es überstanden.« Die Eisfuchsfrau deutete auf eine Wandnische, in der ein kleines, steifes, in Fell gewickeltes Bündel lag.
    »Das tut mir leid«, sagte Renn. Sie fürchtete sich. Bei den Waldclans trug man die Toten weit vom Lager weg, damit ihre Seelen die Lebenden nicht behelligten.
    »Wir behalten unsere Verstorbenen bis zum Frühling bei uns«, erklärte Akoomik, »damit der Fuchs sie nicht holt.«
    »Und damit sie nicht so einsam sind«, setzte Tanugeak hinzu. »Sie plaudern genauso gern wie wir. Wenn man einen Stern ganz schnell über den Himmel ziehen sieht, ist es einer von ihnen, der seine Freunde besuchen will.«
    Diese Vorstellung fand Renn tröstlich, aber Akoomik kniff sich in die Nase, um ihren Schmerz zu bezähmen. »Vor einem Mond haben ihm die Dämonen den Atem geraubt, und nun haben sie auch noch meinen großen Sohn geholt.«
    Renn entsann sich, dass ihnen Inuktiluk von einem im Eis verschollenen Jungen erzählt hatte.
    »Erst starb im Mond des Langen Dunkels mein Gefährte am Fieber«, fuhr Akoomik fort. »Dann spürte meine Mutter den Tod nahen und ging ins Eis hinaus, damit sie uns Jüngeren nicht das Essen wegnimmt. Wenn mein Sohn nicht heimkehrt, habe ich niemanden mehr.« Ihre Augen waren stumpf, als wäre darin ein Licht erloschen. Renn kannte diesen Blick, sie hatte ihn bei Leuten gesehen, deren Seelen krank waren.
    Ich darf Wolf nicht verlieren, ich habe nur ihn.
    Endlich begriff sie, was Torak gemeint hatte. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Seinen Vater hatte der Bär umgebracht. Seine Sippe hatte er nie kennengelernt. Er war der einsamste Mensch, dem sie je begegnet war. Obwohl auch sie Angehörige verloren hatte, wurde ihr klar, dass Toraks Schmerz, wie der von Akoomik, noch frisch war. Wenn er Wolf verlor …
    Wieder grübelte Renn, wie sie sich überwinden könnte, ihm von ihrem Verdacht zu erzählen.

    »Fertig«, sagte Tanugeak, und Renn fuhr erschrocken zusammen.
    Das Mädchen betrachtete die säuberlichen Zickzacklinien auf der Innenseite seiner Handgelenke und fühlte sich stärker, irgendwie beschützter als zuvor. »Vielen Dank. Jetzt muss ich aber meinen Freund suchen gehen.«
    »Nimm erst noch das hier.« Tanugeak reichte ihr einen kleinen, aus der schuppigen Haut von Schwanenfüßen gefertigten Beutel. Die Zehen waren noch dran.
    »Was ist da drin?«
    »Etwas, das dir vielleicht einmal nützlich sein kann.«

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