Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
dazu, etwas zu erwidern. Der Eishöcker neben ihm wölbte sich – und verwandelte sich in einen riesigen weißen Bären.
Kapitel 12
DER EISBÄR reckte den langen Hals und sog prüfend Toraks Witterung ein.
Dann stellte er sich auf die Hinterbeine. Er war größer als zwei ausgewachsene Männer, von denen einer auf den Schultern des anderen steht, und seine Pranken waren doppelt so groß wie Toraks Kopf. Mit einem einzigen Hieb konnte er dem Jungen so mühelos das Genick brechen, wie man eine Weidenrute durchbricht.
Der Bär wiegte den Kopf, kniff blinzelnd die schwarzen Augen zusammen und schnüffelte. Er sah, dass Torak allein dastand und dass Renn und Inuktiluk zum Schlitten liefen und sich dahinter versteckten. Er witterte das Blut im Schnee hinter dem Schlitten und die halb ausgeweidete Robbe. Er hörte die Hunde jaulen und mit närrischer Angriffslust an ihrem Geschirr zerren. Er nahm das alles mit der Gelassenheit eines Geschöpfes auf, das keine Furcht kennt. Die Kraft des Winters durchströmte seine Glieder, die Wildheit des Windes schärfte seine Klauen. Er war unbesiegbar.
In Toraks Ohren rauschte das Blut. Der Schlitten war zehn Schritt entfernt. Es hätten genauso gut hundert sein können.
Der Bär ließ sich wieder auf alle viere fallen. Sein dichter gelblicher Pelz wogte. Er gab keinen Laut von sich.
»Nicht weglaufen«, raunte Inuktiluk. »Geh ganz langsam seitwärts. Komm zu uns rüber, aber kehr ihm nicht den Rücken zu.«
Aus dem Augenwinkel sah Torak, wie Renn einen Pfeil einlegte. Inuktiluk hatte in jeder Hand eine Harpune.
Nicht weglaufen.
Aber seine Beine wollten sich selbstständig machen. Er war wieder im heimischen Wald, floh vor der verwüsteten Hütte, in der sein sterbender Vater lag, floh vor dem Dämonenbären. »Lauf, Torak!«, schrie Fa mit letzter Kraft.
Torak nahm allen Mut zusammen und wagte einen wackligen Schritt.
Der Eisbär senkte den Kopf und richtete den Blick auf ihn. Dann tappte er mit trägem, wiegendem Gang zwischen den Jungen und den Schlitten.
Torak wurden die Knie weich.
Der Bär setzte lautlos Tatze vor Tatze. Nicht einmal seine Klauen machten ein Geräusch und schnaufen hörte man ihn auch nicht.
Fast unwillkürlich zog Torak den Handschuh aus und griff nach seinem Messer. Doch das Messer blieb in der Scheide stecken, sosehr er auch daran zog. Er hätte auf Inuktiluk hören und es unter der Jacke tragen sollen. Das Leder war steif gefroren.
»Fang, Torak!«, rief Inuktiluk leise.
Eine Harpune kam angeflogen und Torak fing sie mit einer Hand auf. Die schlanke Knochenspitze wirkte furchtbar zerbrechlich. »Hat das denn einen Zweck?«, fragte er über die Schulter.
»Kaum. Aber du kannst wenigstens sterben wie ein Mann.«
Der Eisbär fauchte und Torak sah gelbe Fänge aufblitzen. Kalt durchfuhr es ihn, dass Inuktiluk ihm lieber keine Waffe hätte zuwerfen sollen. Der Bär würde sich nicht einschüchtern lassen, die Harpune reizte ihn eher.
Er sah undeutlich, wie Renn ihren Blendschutz abnahm, damit sie besser zielen konnte. »Nicht!«, zischte er warnend. »Du machst es bloß schlimmer.« Renn sah ein, dass er recht hatte, und ließ den Bogen wieder sinken. Den Pfeil ließ sie trotzdem auf der Sehne.
Die Hunde bellten und bissen ins Geschirr. Der Bär schwenkte den Kopf herum und stieß ein tiefes, dumpfes Knurren aus, von dem das Eis bebte.
Dann sah das mächtige Tier dem Jungen unverwandt in die Augen – und Torak vergaß alles um sich herum. Er hörte die Hunde nicht mehr bellen, sah weder Renn noch Inuktiluk, konnte nicht einmal mehr blinzeln. Nichts berührte ihn mehr außer diesen Augen, die schwärzer als Basalt waren und deren Blick vernichtender als der tiefste Hass war, und Torak ahnte – nein, er wusste –, dass für den Bären alle anderen Geschöpfe einfach nur Beute waren.
Seine Hand um den Harpunenschaft war schweißfeucht, seine Beine waren wie gelähmt.
Der Bär mahlte mit den kräftigen Kiefern, hob die Pranke und hieb mit solcher Wucht aufs Eis, dass Torak am ganzen Leib bebte. Trotzdem behauptete er seinen Platz und lief nicht weg.
Waldbären knurren, wenn sie den Gegner nur einschüchtern wollen. Wird es Ernst, fallen sie mörderisch stumm über ihr Opfer her. Galt für Eisbären dasselbe?
Nein.
Der Bär stürzte sich auf ihn.
Torak sah die narbige schwarze Schnauze, die lange grauviolette Zunge. Heißer Atem versengte ihm die Wange …
Blitzschnell schwenkte der Bär herum, richtete sich hoch auf und ließ
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