Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
herantrug, dann schwoll es zu heiserem Geschrei an, das sich in Renns Schädel bohrte und ihren Geist abtöten wollte. Die Dämonen rückten heran.
Eine Handbreit neben ihrem Kopf bohrte sich ein Pfeil ins Eis.
»Keine Bewegung!«, rief eine Männerstimme.
Torak erkannte Renn kaum wieder.
Ihr rotes Haar loderte im wilden Schneegestöber wie Feuer, und ihr weißes Gesicht war fast schmerzlich schön, wie sie so dastand und den Feueropal hochhielt. Das war nicht mehr seine vertraute Freundin, sondern sie glich dem Weltgeist, wie er im Winter erscheint: als Frau mit Haaren aus kahlen roten Weidenruten, die allein durch den Schnee streift und jeden, der ihr begegnet, zu Tode erschreckt.
»Keine Bewegung!«, befahl der Eichenschamane noch einmal.
»Sonst schießen wir«, setzte die Fledermausschamanin warnend hinzu.
»Du entkommst uns nicht!«, rief die Natternschamanin und legte den nächsten Pfeil auf die Sehne.
»Ich warne euch!«, erwiderte Renn und trat näher an den Abgrund. »Wenn ihr schießt, bekommt ihr euren Stein nie zurück!«
Die Seelenesser hielten erschrocken inne. Das Mädchen war nur dreißig Schritt weit weg, in bester Schussweite, aber sie wollten den kostbaren Stein nicht aufs Spiel setzen.
Torak versuchte verzweifelt, sich loszumachen, aber Thiazzi hatte den Pflock mit dem Strick tief ins Eis gerammt.
Torak überlegte fieberhaft, dann steckte er die Hand durch den Schlitz in seinem Fäustling, öffnete die Faust, ließ die schwarze Wurzel fallen und kniete sich hin, um sie mit den Zähnen zu packen. Hoffentlich hatte er nicht zu lange damit gewartet, hoffentlich gelang die List trotz aller Widrigkeiten, hoffentlich …
Etwas Dunkles huschte über ihn hinweg. »Pass auf, Renn!«, rief er. »Über dir!«
Renn hatte den mächtigen Vogel schon gesehen. Als die Adlereule mit gespreizten Fängen auf sie herabstieß, hieb sie mit dem Messer nach ihr, und der große Vogel stob kreischend davon. »Kommt ja nicht näher!«, warnte sie die Seelenesser noch einmal mit fester Stimme. »Ihr könnt mich nicht mehr aufhalten!«
»Tu’s nicht, Renn!«, schrie Torak gellend. »Spring nicht!«
Sie schien ihn erst jetzt zu sehen. Das Leuchten in ihrem Gesicht erlosch, und sie war wieder die Renn, die er kannte. »Torak! Ich darf nicht…«
Sie blickte über seine Schulter und ihre Augen weiteten sich. Torak drehte sich um und sah hinter dem strudelnden Weiß eine schwarze Flut wie den Schatten einer großen Wolke über die Eislandschaft huschen.
Die Dämonen.
Erst konnte Torak den Blick nicht von dem dunklen Ansturm wenden, aber dann bückte er sich rasch, nahm die Wurzel mit den Zähnen auf und kaute drauflos, überwand sich, den bitteren Brei hinunterzuwürgen.
»Spring nicht, Renn!«
»Spring nicht!«, rief Torak – und Renn zögerte.
Sie sah ihn, von Flocken umtanzt, auf dem schwarzen Eis knien, an einen Pflock gebunden und ohne Kapuze, sodass sie sein übel zugerichtetes Gesicht erkennen konnte. Links und rechts von ihm stand je ein Seelenesser, er konnte nicht vor und nicht zurück… und doch zauderte Renn. Toraks Ruf hatte so selbstsicher geklungen …
Doch die Dämonenschar kam unaufhaltsam näher und auch die Seelenesser setzten sich nun in Bewegung.
Torak wankte … und Renn sah bestürzt, dass er leichenblass wurde, die Augen verdrehte und vornüberkippte.
Steh auf!, flehte sie stumm. Tu etwas, ganz gleich, was, aber lass mich wissen, dass du noch lebst.
Torak lag reglos da.
Es ist aus, dachte Renn benommen. Jetzt bin nur noch ich übrig.
Sie schloss die Faust um den Feueropal und ging langsam rückwärts, auf den Abgrund zu.
Kapitel 38
TORAK LAG MIT DEM GESICHT im Schnee und hatte den Mund voll bitterem Wurzelsaft.
Mit letzter Kraft wandte er den Kopf, sah Renn rückwärts auf den Abgrund zuschreiten und die Seelenesser nachrücken. Dann fegten die Dämonen mit Gebrüll über ihn hinweg. Sie gierten nach dem Feueropal und fürchteten sich zugleich vor den Wölfen, die hinter ihnen her waren – die weißen Wölfe des Nordens und der graue Waldwolf, die unermüdlich ihrer Fährte gefolgt waren und nun angejagt kamen und sie vor sich hertrieben.
» Wolf… «, wollte Torak sagen, aber seine Lippen gehorchten ihm nicht. Krämpfe wüteten in seinen Eingeweiden, wellenartige Übelkeit.
Ehe es Nacht um ihn wurde, sah er noch, dass sich die Natternschamanin umdrehte und ihr vor Schreck der Mund offen blieb. Am Rand des Packeises schnellte ein riesiger weißer Bär aus dem
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