Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
hielt sich immer an die Duftmarken, damit die Fremdwölfe merkten, dass er absichtlich in ihr Revier eingedrungen war. Das sollte bewirken, dass sie eher neugierig als wütend wurden, aber Wolf konnte nicht einschätzen, wie sich die fremden Wölfe tatsächlich verhalten würden oder – das war fast noch wichtiger – wie ihm der Leitwolf entgegentreten würde. Wölfe verteidigen ihr Revier erbittert und erlauben anderen Wölfen nur ausnahmsweise, es zu betreten. Eine noch größere Ausnahme war es, wenn ein Rudel einem Fremden gestattete, mit ihm zu laufen, wie Wolf einst mit dem Rudel vom Berg gelaufen war und Groß Schwanzlos mit dem Rudel der nach Raben riechenden Schwanzlosen.
Die Duftmarken rochen immer würziger, die Abstände wurden kleiner. Es konnte nicht mehr lange dauern.
So war es auch.
Die weißen Wölfe stürmten so flink heran, dass sogar Wolf staunte. Es war ein großes Rudel, aber alle liefen hintereinander in der Fährte des Leitwolfs, wie es die Waldwölfe auch taten. Obwohl sie kleiner und untersetzter als jene waren, machten sie einen ausgesprochen kräftigen Eindruck.
Wolf blieb reglos stehen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber er hatte Kopf und Schwanz erhoben. Man durfte ihm nicht anmerken, dass er sich fürchtete.
Schon kam das Rudel über das Helle Weiße Kalt heran.
Der Leitwolf blickte flüchtig über die Schulter und die anderen Wölfe schwärmten aus, kreisten Wolf ein.
Dann standen sie stumm da. Ihr Fell schimmerte im Schein des Großen Weißen Auges, ihr Atem war wie Nebel, ihre Augen blinkten silbrig.
Wolf atmete absichtlich ruhig, damit er möglichst gelassen wirkte.
Der Leitwolf kam steifbeinig auf ihn zu, Ohren und Schwanz aufgestellt, das Fell gesträubt.
Wolf legte die Ohren an, aber nur ganz wenig. Auch er sträubte das Fell, aber nicht so sehr wie der Leitwolf, und senkte den Schwanz kaum merklich. Hielt er ihn zu hoch, war das respektlos, senkte er ihn zu weit, hielt man ihn für einen Schwächling.
Der Leitwolf blickte stur an ihm vorbei, zu stolz, um seinen Blick zu suchen.
Wolf wandte fast unmerklich den Kopf und schaute zu Boden.
Der Leitwolf kam näher und verharrte einen Pfotenhieb vor Wolfs Nase.
Wolf wagte kaum zu atmen, wich aber nicht zurück. Aus dem Augenwinkel musterte er die Narben auf der Schnauze des Leitwolfs, sein zerfetztes Ohr. Vor ihm stand ein Wolf, der viele Kämpfe ausgefochten und gewonnen hatte.
Der Leitwolf kam noch näher, beschnüffelte Wolfs Hinterteil und den Rindenverband um seinen Schwanz. Er wich jäh zurück und ließ verwirrt die Ohren spielen. Dann kam er mit der Schnauze ganz dicht an Wolfs Schnauze heran, berührte ihn aber nicht, sondern sog die Witterung des Eindringlings ein.
Auch Wolf kostete den süßlich strengen Geruch des Leitwolfs, während die anderen weißen Wölfe stumm warteten.
Der Anführer hob die Vorderpfote – und berührte damit Wolfs Schulter.
Wolf duckte sich unmerklich.
Jetzt kam es drauf an. Entweder sie halfen ihm oder sie rissen ihn in Stücke.
Kapitel 37
NACH EINER AUSGESPROCHEN unbequemen Nacht in dem eilig gegrabenen Unterschlupf hockte Renn da und wartete auf den Morgen. Ihren letzten Morgen. Sie wiederholte es in Gedanken immer wieder, um sich daran zu gewöhnen.
Eigentlich hätte sie schon in der vergangenen Nacht den Mut haben sollen, dem Ganzen ein Ende zu machen, aber sie hatte die Sonne noch einmal sehen wollen. Es war eine stille Nacht gewesen. Renn hatte nur den rastlosen Wind gehört und ab und zu ein dumpfes Grollen, wenn sich der Eisfluss im Schlaf regte. Noch nie waren die Sterne so fern und kalt gewesen. Renn sehnte sich nach Stimmen. Menschenstimmen, Fuchsstimmen, was auch immer. »Stimmendurst« nennen es die Clans im Norden, wenn man ganz allein durch die eisige Ödnis streift und sich verzweifelt nach Stimmen sehnt, mehr noch als nach Feuer oder Fleisch, weil man nicht einsam und verlassen sterben will.
Es war ungerecht. Wieso musste ausgerechnet sie sich samt den Dämonen in eine Eisschlucht stürzen? Sie wollte Torak wiedersehen, Fin-Kedinn und Wolf.
»Es geht nicht darum, was du willst«, sagte sie laut. »So ist es nun mal.« Ihre Stimme klang heiser und brüchig wie die von Saeunn. Am Himmel über dem Eisfluss erschien ein blutroter Spalt wie eine Wunde.
Renn beobachtete, wie sich das Rot erst in Orange und dann in gleißendes Gelb verwandelte. Schluss mit den Ausflüchten! Sie stand auf. Die Todeszeichen waren zu einer spröden Kruste getrocknet, auf
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