Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Auge an, die Kopfhaut war vernarbt und rot gesprenkelt, nur der Mund war unversehrt. Der Schamane bedachte Torak mit einem herausfordernden Lächeln und schien darauf zu lauern, dass der Junge zurückschreckte.
Torak legte beide Fäuste auf die Brust und verbeugte sich. »Ich gestehe, dass ich euer Gesetz verletzt habe, aber es geschah aus Unwissenheit. Mein Vater hat mich die Bräuche der Meerclans nicht gelehrt.«
Der Robbenschamane Tenris neigte ihm den verbrannten Kopf zu. »Was hattest du dann am Meer zu schaffen?«
»Die Anführerin der Waldpferde meinte, ich würde dort finden, wonach ich suche.«
»Und wonach suchst du?«
»Nach einem Heiltrank.«
»Wogegen? Bist du krank?«
Torak schüttelte den Kopf und berichtete Tenris, was es mit der Krankheit auf sich hatte.
Seine Schilderung hatte auf die Robben eine durchschlagende Wirkung.
Der Älteste schlug die runzligen Hände zusammen.
Andere stießen Schreckensrufe aus.
Bale sprang mit drohender Miene auf. »Warum hast du uns nicht gewarnt? Wenn du es nun zurückbringst?!«
Torak machte große Augen. »Ihr kennt die Krankheit? Hat sie schon welche von euch befallen?«
Aber Bale wandte sich mit gequältem Gesicht ab.
»Vor drei Sommern hat sie uns heimgesucht«, sagte der Älteste finster. »Sein kleiner Bruder ist als Erster gestorben, und dann noch drei andere, auch mein eigener Sohn.«
»Aber inzwischen habt ihr die Krankheit überwunden?«, fragte Torak äußerlich ruhig, obwohl er vor Spannung schier platzte. »Ihr habt ein Mittel gefunden, das dagegen hilft?«
»Schon, aber es ist nur für uns Robben bestimmt, nicht für irgendwelche Fremden.«
Torak war verzweifelt. »Aber ich brauche es! Ihr müsst mir helfen!«
Bale fuhr herum. »Wir müssen gar nichts! Du hast unser Gesetz verletzt, du hast die Meermutter erzürnt, und jetzt willst du uns weismachen, wir müssten dir helfen?«
»Ihr wisst ja nicht, was bei uns im Wald vor sich geht!«, hielt Torak dagegen. »Die Raben sind krank und die Eber, die Otter und die Weiden auch. Bald sind nicht mehr genug Leute übrig, die noch auf die Jagd gehen können…«
»Was geht uns das an?«, erwiderte der Älteste.
Zustimmendes Raunen der anderen Robben.
»Bloß weil du angeblich unser Verwandter bist?«, setzte der Schamane noch eins drauf.
»Aber ich bin tatsächlich euer Verwandter!«, beteuerte Torak. »Ich kann es beweisen! Wo ist meine Trage?«
Ein Blick von Tenris genügte und Asrif lief zu einer Hütte und kam im Handumdrehen mit Toraks Trage zurück.
Torak kramte hastig das Bündel mit dem Messer seines Vaters hervor. »Hier«, sagte er, wickelte die Waffe aus und hielt sie dem Schamanen hin. »Die Klinge stammt von eurer Sippe. Mein Vater bekam sie von seiner Mutter und hat sich einen Knauf dafür geschnitzt.«
Tenris betrachtete das Messer eingehend, äußerte sich jedoch mit keinem Wort dazu. Seine Linke war eine verbrannte, verkrümmte Klaue, die Rechte war gesund. Die langen braunen Finger bebten, als sie die Klinge berührten.
Mit klopfendem Herzen wartete Torak, was er sagen würde.
Auch der Älteste musterte das Messer. Der Anblick schien ihm zu missfallen. »Wie ist das möglich, Tenris?«, fragte er mit seiner schwachen Stimme.
»Es stimmt«, erwiderte Tenris leise. »Der Knauf ist aus Hirschhorn und die Klinge aus Meerschiefer.« Er sah auf und musterte Torak abschätzig. »Angeblich hat also dein Vater den Knauf geschnitzt. Wer war er, dass er es wagte, Wald und Meer zu vereinen?«
Torak blieb ihm die Antwort schuldig.
»Ich nehme an, er war eine Art Schamane?«
Gerade noch rechtzeitig fiel Torak Fin-Kedinns Warnung wieder ein und er schüttelte den Kopf.
Überraschenderweise verzog Tenris den Mund zu einem flüchtigen Lächeln. »Du bist kein guter Lügner, Torak.«
Torak zögerte, dann erwiderte er: »Fin-Kedinn hat mir verboten, über meinen Vater zu sprechen.«
»Fin-Kedinn«, wiederholte Tenris. »Den Namen kenne ich irgendwoher. Ist er auch Schamane?«
»Nein.«
»Aber die Raben haben doch gewiss einen Schamanen.«
»Ja, eine Frau. Sie heißt Saeunn.«
»Hat sie dich die Schamanenkunst gelehrt?«
»Nein. Ich bin Jäger wie mein Vater. Er hat mich Jagen und Spurenlesen gelehrt, nicht die Schamanenkunst.«
Wieder sah ihn Tenris prüfend an, und diesmal spürte Torak seinen unbestechlichen Scharfsinn wie einen gleißenden Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht.
Mit einem Mal glätteten sich die Züge des Schamanen. »Er sagt die Wahrheit«, wandte
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