Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Robbenschamane erhob sich. In der verbrannten Hand hielt er drei Meerknollen und verteilte sie auf dem Boden. »Du kommst, weil du mit mir über deine Buße verhandeln willst?«
»Ja.«
»Du hast die Meermutter erzürnt.«
»Ich wollte …«
»Das kümmert die Meermutter nicht.« Tenris legte den letzten Stein auf den Boden. Er drehte sich immer noch nicht um, sondern forderte Torak auf: »Hilf mir mal. Reich mir die Steine, immer einen nach dem anderen.«
Torak wollte etwas einwenden, besann sich jedoch eines Besseren. Hintereinander schritten sie die Klippe ab, und jedes Mal wenn der Schamane die Hand ausstreckte, reichte ihm Torak einen Stein. Dabei kamen sie einmal dem Abgrund ganz nahe und Torak erhaschte einen Schwindel erregenden Blick auf das Meer.
»Heute sieht sie ganz ruhig aus, nicht wahr?« Tenris war seinem Blick gefolgt. »Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie mächtig sie ist?«
Torak schüttelte den Kopf.
Der Schamane bückte sich geschmeidig und legte einen Stein auf den Boden. Die Lundenschnäbel an seinem Gürtel klimperten leise. »Der Mann, der den Wal getötet hat, mit dessen Fleisch wir gestern das Fest gefeiert haben, hat sich das Haar abgeschnitten, um Abbitte zu tun, dass er ihr eines ihrer Kinder geraubt hat. Jetzt darf er drei Tage lang nichts essen und seine Gefährtin nicht anrühren. Erst wenn die Walseelen zur Mutter zurückgekehrt sind, darf er das Lager wieder betreten.«
Er zeigte auf die Meerknollen vor seinen Füßen. »Deswegen lege ich auch die Steine aus. Um den Seelen den Weg zu weisen.« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Du musst begreifen, Torak, dass hier bei der Mutter weit rauere und gefahrvollere Bräuche herrschen als bei euch im Wald.«
Stimmen drangen zu ihnen herauf. Torak spähte den Steilhang hinab und sah, dass das Robbenlager allmählich zum Leben erwachte. Bale stand mit zwei Männern zusammen und zeigte nach oben zur Klippe.
»Schamane«, begann Torak, »ich muss dir etwas …«
Tenris hob die Hand und er verstummte. »Sie wohnt auf dem tiefsten Meeresgrund«, sagte der Schamane leise, »und ist stärker als die Sonne. Ist sie zufrieden, schickt sie uns Robben und Fische und Vögel zum Jagen. Ist sie erzürnt, behält sie ihre Kinder bei sich, schlägt mit der Schwanzflosse und schickt uns Stürme. Atmet sie ein, weicht das Wasser zurück, atmet sie aus, kommt die Flut herein.«
Er unterbrach sich kurz und beobachtete den belebten Uferstreifen. »Sie tötet ohne Vorwarnung, ohne Arglist und ohne Erbarmen. Vor vielen Wintern kam von Westen her die Große Flut. Nur wer sich auf diese Klippe retten konnte, blieb am Leben.« Er wandte sich nach Torak um. »Schon der Wind ist sehr mächtig, Torak, aber die Macht der Meermutter übertrifft jede Vorstellung.«
Torak wunderte sich, weshalb ihm Tenris das alles erzählte.
»Weil auch Wissen Macht ist«, sagte der Schamane, als könnte er Gedanken lesen.
Torak sah sich verstohlen um.
»Hast du hier oben den Trank gebraut?«
Er war verdutzt, als der Schamane lächelte. »Auf diese Frage habe ich schon gewartet.«
Tenris trat wieder an den klobigen Steinaltar, nahm eine Krebsschere herunter, setzte sie an den Mund und blies hinein, worauf ein dünner, blauer, würzig duftender Rauchfaden aufstieg. »Mit dem Heiltrank verhält es sich so«, erläuterte er zwischen zwei Rauchstößen, »dass es nicht darauf ankommt, wo man ihn bereitet, sondern wann . Es gelingt nur einmal im Jahr in einer ganz bestimmten Nacht. In der zauberkräftigsten Nacht von allen. Errätst du, welche das ist?«
»Die Mittsommernacht?«, erwiderte Torak unsicher.
Tenris sah ihn scharf an. »Ich dachte, du verstehst nichts von Schamanenkunst?«
»Das stimmt auch. Aber ich bin in der Mittsommernacht geboren, deshalb ist sie mir zuerst eingefallen. Außerdem ist es die Nacht der größten Wandlung, und es ist allgemein bekannt, dass die Schamanenkunst…«
»…mit Wandlungen zu tun hat«, ergänzte Tenris, der nun wieder lächelte, den Satz. »Wie das Leben überhaupt. Aus Ast wird Blatt, aus Gejagten werden Jäger, aus Jungen werden Männer. Du bist ein heller Kopf, Torak, ich könnte dich manches lehren. Zu schade, dass du auf den Stein musst.«
Torak ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Darüber wollte ich ja mit dir sprechen. Ich… ich gehe nicht auf den Stein.«
Tenris hielt inne. Im ersten Morgenlicht sah man seine Brandwunden besonders deutlich. »Wie bitte?«
Torak gab sich einen Ruck. »Ich gehe nicht auf
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