Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
wider Willen neugierig war. »Diese dünne durchsichtige Haut, die stammt doch nicht auch von den Robben.«
»Doch«, entgegnete Asrif, »das sind die Därme.«
»Siehst du?«, trumpfte Detlan auf. »Wir verdanken den Robben alles. Wir sind das Robbenvolk.«
»Aber man darf doch sein Totemtier nicht töten«, wandte Torak skeptisch ein. »Warum tut ihr das?«
Die drei Jungen waren ganz betroffen.
»So etwas würden wir niemals tun!«, rief Detlan und klopfte empört auf den gefleckten Fellstreifen an seiner Brust. » Das hier ist unser Totemtier! Die Ringelrobbe! Wir jagen und essen Graurobben !«
Solche Unterscheidungen waren Torak fremd und kamen ihm spitzfindig und unehrlich vor. Das sah man ihm anscheinend an, denn Detlans Gesicht verfinsterte sich Unheil verkündend.
»Ich hab dir doch gesagt, dass du nur deine Zeit verschwendest.« Bale stand auf und wandte sich an Torak: »Komm mit. Ich bringe dich zu unserem Ältesten.«
Islinn, der Robbenälteste, war ein uralter, verhutzelter Mann, der den Eindruck machte, als sei er dem Tod näher als dem Leben.
In sein schütteres weißes Haupt- und Barthaar waren kleine blaue Schieferperlen geflochten, und in den Ohren trug er große, gewundene, speerartige Schneckenhäuser, die so schwer waren, dass ihm die Ohrläppchen bis auf die Schultern reichten.
Bale gab Torak einen Stoß, dass er vor dem Greis auf die Knie fiel. Dann stellte er der Sippe den Gefangenen vor und schilderte, wie sich dieser gegen das Gesetz vergangen hatte.
Bei seinen Worten schrien einige Sippenmitglieder auf, liefen zu dem Walkiefer und tätschelten ihn besänftigend. Der Älteste strich sich mit zittriger Hand den Bart, schwieg jedoch. Seine Augen tränten und sein Blick flackerte. Torak wusste nicht zu sagen, ob daraus Klugheit sprach oder gerade das Gegenteil.
Schließlich ergriff Islinn doch das Wort. »Du behauptest also, unser Verwandter zu sein«, sagte er mit näselnder und so leiser Stimme, dass es schien, als habe er kaum noch genug Kraft zu sprechen.
»Die Mutter meines Vaters gehörte eurer Sippe an«, erwiderte Torak.
»Wie heißt dein Vater?«
»Das darf ich nicht sagen. Er ist letzten Herbst gestorben.«
Der Alte überlegte, dann raunte er seinem Nebenmann etwas zu. Dessen Gesicht war hinter einer Rauchschwade verborgen, aber an dem dicken sandfarbenen Haarschopf und der kräftigen Statur erkannte Torak, dass er wesentlich jünger als Islinn war. Sein Wams und sein Beinleder waren schlicht gearbeitet, dafür trug er einen prachtvollen, zwei Hände breiten und mit gelbroten Lundenschnäbeln besetzten Gürtel aus geflochtenen Lederstreifen.
Lunde, aha, dachte Torak. Das ist bestimmt der Schamane.
»Dann sag uns eben, wie die Mutter deines Vaters hieß«, befahl der Älteste.
Torak gehorchte.
Der Greis kniff die eingefallenen Lippen zusammen.
Man hörte einige andere Robben nach Luft schnappen.
»Ich habe sie gekannt«, näselte der Älteste. »Sie hat sich mit einem Waldmann zusammengetan. Ich wusste gar nicht, dass sie einen Sohn bekommen hat.«
»Und woher sollen wir wissen, ob das stimmt?«, mischte sich der Schamane ein, ohne den Kopf zu wenden. »Woher wissen wir, dass sich der Junge nicht für einen anderen ausgibt?« Er sprach leise, doch alle Robben beugten sich gespannt vor und lauschten.
Seine Stimme hatte einen ungewöhnlichen Klang. Sie war tief und sanft, aber zugleich bezwingend und mächtig wie das Meer. Diese Stimme zog jeden, der sie vernahm, in ihren Bann. Sogar Torak vergaß einen Augenblick lang, dass ihn dieselbe Stimme eben erst der Lüge bezichtigt hatte.
Der Älteste nickte. »Du nimmst mir das Wort aus dem Mund, Tenris.«
Der Rauch verzog sich, und Torak sah das Gesicht des Schamanen zum ersten Mal richtig, beziehungsweise sein Profil, denn Tenris hielt den Kopf immer noch abgewandt. Er hatte ein scharf geschnittenes, anziehendes Gesicht mit einer geraden Nase, einem breiten, von tiefen, freundlichen Falten umrahmten Mund, einem kräftigen Kinn und einem kurzen dunkelgoldenen Bart.
Torak spürte, dass in Wahrheit dieser Mann bei den Robben die Macht innehatte, dass von ihm allein sein Schicksal abhing. Er musste an Fin-Kedinn denken.
»Ich lüge nicht«, sagte er. »Ich bin mit euch blutsverwandt.«
»Dein Wort genügt uns nicht«, erwiderte der Schamane. Endlich wandte er den Kopf, und Torak sah, dass seine ganze linke Gesichtshälfte von schrecklichen Brandwunden entstellt war. Zwischen wimpernlosen Lidern blickte ihn ein graues
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