Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
ins Meer strömte. Hier war die Robbenbucht nicht ganz so öd und kahl, wie es ihm am vergangenen Abend auf den ersten Blick vorgekommen war. Im Gras blühten gelbe Sonnenbecher und violette Kranichschnäbel und auf den flachen Ausläufern der schroffen Klippen wuchsen lichtgrüne Ebereschen und Birken.
Torak fand es grausam, dass ihm die Robben die Freiheit ließen, sich an alldem zu erfreuen. Er kam sich vor wie ein Fisch im Netz, der noch umherschwimmt, obwohl er schon weiß, dass er gefangen ist.
Er kniete sich hin und schöpfte das eiskalte Wasser in die hohle Hand.
Da sah er auf einem Felsen am gegenüberliegenden Ufer den Schleicher hocken und zu ihm herüberspähen.
Torak erschrak so, dass er sich nicht rühren konnte. Das Wasser rann ihm durch die Finger.
»Was willst du?«, fragte er heiser.
Das Geschöpf reagierte nicht. Die verfilzte Mähne ließ nur die Klauen und die funkelnden Augen frei.
»Warum verfolgst du mich?«, rief Torak. »Was willst du von mir?«
Er sah einen Schatten über die Steine gleiten und hob den Kopf, aber es war nur eine Möwe, die über ihn hinwegflog. Als er wieder geradeaus blickte, war der Schleicher fort.
Mit einem Wutschrei stapfte Torak durch den Wasserlauf… aber das geheimnisvolle Geschöpf war im Wacholdergestrüpp verschwunden.
Es war jedoch keine Einbildung gewesen, denn als er sich bückte und den Stein untersuchte, wo es gesessen hatte, fand er Kratzspuren im Moos.
Ihm wurde schwindelig. Der Schleicher war ihm übers Meer gefolgt…
»Mit wem hast du da gesprochen?«, fragte jemand misstrauisch, und als Torak sich umdrehte, sah er am anderen Ufer des Wasserlaufs Bale stehen. »Du hast eben mit jemandem gesprochen. Mit wem?«
»Mit niemandem«, stammelte Torak. »Ich… ich habe mit mir selbst geredet.«
Warum war ihm der Schleicher hierher gefolgt? Und wie hatte er das Meer überwunden?
Ihm fiel der Packen Lachshäute ein, den Asrif vermisste. Das wäre eine Erklärung. Als die Robbenjungen mit ihrem Gefangenen beschäftigt gewesen waren, hatte der Schleicher ein Bündel geöffnet, es ausgeleert und war hineingekrochen. Bei dem Gedanken, wie nahe sie einander auf der Überfahrt gewesen sein mussten, überlief es Torak kalt.
»Das nehme ich dir nicht ab«, sagte Bale. »Wenn du mit dir selbst geredet hast, warum machst du dann so ein schuldbewusstes Gesicht?«
Torak schwieg. Er machte ein schuldbewusstes Gesicht, weil er sich schuldig fühlte. Wenn du es nun zurückbringst?! , hatte Bale am Vorabend ausgerufen. Er hatte die Krankheit gemeint, nicht dieses Schleichervieh. Aber war das nicht ein und dasselbe?
Er watete wieder zurück. »Wo ist Tenris?«, fragte er eindringlich. »Ich muss ihn unbedingt sprechen.«
Bale kniff voller Argwohn die blauen Augen zusammen. »Wieso? Der wird dir auch nicht helfen.«
Torak ließ ihn reden. Ihm war ein Gedanke gekommen. Die Sache war nicht ganz ungefährlich – wie immer wenn man mit Schamanen zu tun hatte –, aber es ersparte ihm vielleicht den Stein. »Wo ist er?«, wiederholte er seine Frage.
Bale deutete mit dem Kinn auf den überhängenden Felsen am nördlichen Ende der Bucht. »Auf der Klippe. Aber er will bestimmt nicht mit dir sprechen.«
»Doch«, erwiderte Torak.
Der Pfad schlängelte sich den steilen Felsen hoch und manchmal musste Torak auf allen vieren weiterklettern.
Als er endlich oben war, musste er erst einmal wieder zu Atem kommen. Er stand auf einem schmalen Felsvorsprung, der sich zu einem flachen Plateau verbreiterte und wie ein Bootsbug übers Meer hinausragte. In der Mitte lag ein grob behauener, flacher Granitblock, der einen Fisch darstellen sollte. Darauf waren Meerknollen aufgeschichtet. Daneben hockte mit gekreuzten Beinen der Robbenschamane und murmelte etwas vor sich hin.
»Ich muss dich sprechen, Schamane«, keuchte Torak.
»Nicht so laut!«, zischte Tenris, ohne aufzublicken. »Und pass auf, dass du nicht auf die Linien trittst.«
Torak starrte auf den Boden. Der Felsvorsprung war dicht an dicht mit dünnen silbrigen Linien überzogen, die keine scharfkantigen Meißelspuren aufwiesen, sondern nach dem Einritzen so glatt geschliffen worden waren, dass kein Moos darauf wurzelte und Wind und Wetter ihnen nichts anhaben konnten. Torak erkannte Jäger und andere Fische, Adler und Robben. Manchmal verfolgten sie einander, manchmal überschnitten sich ihre Umrisse auch, als hätte einer den anderen gefressen, und so tanzten sie den ewigen Tanz von Jägern und Gejagten.
Der
Weitere Kostenlose Bücher