Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Wölfe. Freudengeheul nach einer geglückten Jagd.
Torak vergaß, dass ihm schwindlig war, er vergaß alles um sich herum, als ihn das Lied der Wölfe wie eine Welle überflutete. Er hörte die tiefen, kräftigen Stimmen der Leitwölfe heraus, das gedämpftere Geheul der übrigen Rudelmitglieder, das sich respektvoll damit verwob, und das winselnde Jaulen der Welpen, die mitzuhalten versuchten. Doch die ganz besondere Stimme, nach der er solche Sehnsucht hatte, war nicht dabei.
Nicht dass er damit gerechnet hätte. Wolf – sein Wolf – war mit seinem Rudel weiter nördlich unterwegs. Das Geheul dagegen, das er eben vernahm, kam von Osten, von den Hügeln am Rand des Großen Waldes.
Trotzdem wollte er einen Versuch unternehmen. Er schloss wieder die Augen, wölbte die Hände um den Mund und heulte einen Gruß.
Sofort änderte sich der Klang des fremden Geheuls.
Wo jagst du, einsamer Wolf? , heulte die Leitwölfin in scharfem Befehlston.
Viele Sprünge fern von euch , gab Torak zur Antwort. Sag mir – herrscht Krankheit in eurem Revier?
Unser Revier ist ein gutes Revier! , lautete die gekränkte Erwiderung. Das beste im ganzen Wald!
Torak hatte schon geahnt, dass die fremden Wölfe nicht begreifen würden, was er mit seiner Frage meinte. Er beherrschte die Wolfssprache nicht besonders gut und hatte Schwierigkeiten, sich darin auszudrücken. Wolf hätte ihn trotzdem verstanden, dachte er, und es gab ihm einen Stich.
Das Wolfslied verstummte jäh.
Torak schlug die Augen auf und sah sich auf der mondbeschienenen, von dunklem Farn und geisterhaft weiß blühenden Spiersträuchern umstandenen Lichtung um. Ihm war, als sei er aus einem Traum erwacht.
Leise Flügelschläge. Ein Kuckuck ließ sich auf dem Baumstumpf neben ihm nieder und sah ihn aus gelben Augen eindringlich an.
Oslaks zornige Anklage fiel ihm wieder ein. Du gehörst nicht zu uns! Du bist ein Kuckuckskind! Auch da hatte der Wahnsinn aus ihm gesprochen und doch war etwas Wahres daran. Der Kuckuck kreischte und flog davon. Etwas hatte ihn erschreckt.
Torak stand geräuschlos auf und legte die Hand ans Heft seines Messers.
Der Mond schien hell, die Lichtung war leer.
Ein Stück weiter östlich mündete ein Bach in das Breitwasser. Torak untersuchte das Ufer auf Spuren. Nichts. Keine Haarbüschel im Gestrüpp, keine zurückgebogenen Zweige.
Und doch war jemand da, das spürte er.
Er reckte den Hals und spähte in die Birkenkrone über seinem Kopf.
Dort hockte etwas und schielte feindselig zu ihm herunter. Klein. Bösartig. Haare wie welkes Gras und ein Blättergesicht. Ein Windstoß bewegte die Zweige und schon war es wieder verschwunden.
So traf Renn ihn an: Den Kopf in den Nacken gelegt und das Messer gezückt, stand er wie angewurzelt da.
»Was ist?«, fragte sie. »Warum bist du weggelaufen? Bist du… hast du was Falsches gegessen?« Vor dem Wort »krank« schreckte sie zurück.
»Es geht mir gut«, erwiderte Torak, was ganz offensichtlich gelogen war. Mit bebender Hand schob er das Messer wieder in den Gürtel.
»Du bist aber ganz blass um die Nase.«
»Es geht mir gut.«
Torak setzte sich unter dem Baum auf den Boden und Renn warf rasch einen Blick auf seine Hände, konnte aber keine Pusteln entdecken. »Hast du vielleicht einen ungenießbaren Pilz gegessen?«, hakte sie mit mühsam verhohlener Erleichterung nach.
Er ging nicht darauf ein. »Das Verborgene Volk«, fragte er unvermittelt, »wie sieht es eigentlich aus?«
»Was? Das weißt du doch genauso gut wie ich. Sie sehen aus wie unsereins, nur wenn sie einem den Rücken zukehren, sieht man, dass sie ganz morsch und hohl sind …«
»Und im Gesicht? Wie sehen sie im Gesicht aus?«
»Sag ich doch, wie unsereins! Warum? Wieso fragst du?«
Torak schüttelte den Kopf. »Ich dachte schon, ich hätte da etwas gesehen. Ich dachte … vielleicht ist ja das Verborgene Volk an dieser Krankheit schuld.«
»Das glaube ich nicht.« Renn wagte nicht, ihrem Freund anzuvertrauen, was sie bei der Heilzeremonie erkannt hatte. Das wäre ungerecht. Nach all den Strapazen, die er vergangenen Winter auf sich genommen hatte …
Sie riss sich zusammen, ging zum Fluss hinunter und wusch sich den Lehm erst vom Gesicht und dann von den Händen, wo eine dicke Kruste verhindert hatte, dass sie sich an der heißen Asche verbrannte. Dann rupfte sie für Torak ein Büschel feuchtes Moos aus. »Leg dir das auf die Stirn, dann geht’s dir besser.« Sie hockte sich neben Torak ins Farnkraut, holte
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