Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
etwas zurückzubringen , das Torak weggeworfen hatte, und kam mit der Nanuak im Maul auf seinen Gefährten zugesprungen.
Hord streckte sich, um an den Beutel heranzukommen. Torak bekam eine Hand frei und hielt den Arm des Gegners fest. Wenn nur sein Messerarm nicht unter Hords Knie festgeklemmt wäre …
Ein übernatürliches Gebrüll erschütterte die Klamm. Voller Entsetzen sah Torak den Bären über der Böschung aufragen.
Und in jenem allerletzten Moment, als der Bär schon über ihnen war, als Wolf mit der Nanuak im Maul stehen blieb – in diesem allerletzten Augenblick, in dem Torak mit Hord rang, begriff er die wahre Bedeutung der Weissagung: » Der Lauscher opfert dem Berg sein Herzblut .«
Sein Herzblut.
Wolf.
Nein! , bäumte er sich stumm auf.
Aber er wusste, was er zu tun hatte. Laut rief er Wolf zu: »Bring’s zum Berg! Wuff! Wuff! Wuff!«
Wolf heftete die goldenen Augen auf ihn.
»Wuff!«, keuchte Torak. Seine Augen brannten.
Wolf machte kehrt und rannte den Pfad hinauf.
Hord knurrte vor Zorn, wollte hinter ihm herstolpern, rutschte jedoch aus und kippte mit einem Aufschrei über die Böschung, dem Bären geradewegs in die weit geöffneten Tatzen.
Torak kam mühsam auf die Beine. Hord schrie immer noch. Torak musste ihm helfen.
Hoch oben ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen.
Der ganze Pfad erbebte. Torak wurde auf die Knie geworfen.
Das Krachen schwoll zu einem knirschenden Brüllen an. Torak warf sich unter den Überhang und im nächsten Augenblick kam der rasende, tobende, todbringende Schnee herabgestürzt, riss Hord und den Bären mit und schleuderte sie heulend hinab in den Tod.
Der Weltgeist hatte Toraks Bitte erhört.
Das Letzte, was Torak sah, war Wolf, der mit der Nanuak im Maul unter dem donnernden Schnee hindurch auf den Berg zuraste. »Wolf!«, schrie er. Dann wurde alles weiß.
Torak nahm nicht wahr, wie lange er mit fest zusammengekniffenen Lidern in der Felsnische gekauert hatte.
Irgendwann wurde ihm bewusst, dass sich das Donnern in vereinzelte Echos aufgelöst hatte und dass auch die Echos immer schwächer wurden. Der Weltgeist zog sich wieder ins Gebirge zurück. Seine Schritte verklangen im Rieseln des fallenden Schnees …
Dann ein Flüstern …
Dann… Stille.
Torak öffnete die Augen.
Er konnte die andere Seite der Klamm erkennen, demnach war er nicht lebendig begraben. Der Weltgeist hatte den Überhang verschont und ihn am Leben gelassen.
Aber wo war Wolf?
Er stand auf und stolperte zum Pfad zurück. Es war nicht mehr ganz so eisig. Er sah die Berge durch einen Schleier fallenden Schnees. Der Grund der Schlucht war mit Eis- und Felsbrocken bedeckt, darunter begraben lagen Hord und der Bär.
Hord hatte seinen Ehrgeiz mit dem Leben bezahlt. Der Bär war nur noch eine leere Hülle, denn der Geist hatte den Dämon in die Andere Welt verbannt. Vielleicht hatten jetzt auch die eigenen Seelen des Bären ihren Frieden gefunden, nachdem sie so lange mit dem Dämon zusammengesperrt gewesen waren.
Torak hatte seinen Schwur gegenüber Fa eingelöst. Er hatte dem Weltgeist die Nanuak gebracht – und dafür hatte der Geist den Bären vernichtet.
Er wusste es, aber er konnte es nicht richtig fühlen. Das Einzige, was er fühlte, war der Schmerz in seiner Brust. Wo war Wolf? Hatte er den Berg noch erreicht, bevor der Schnee herabstürzte? Oder lag er ebenfalls unterm Eis begraben?
»Bitte mach, dass er lebt« , murmelte Torak. »Bitte. Ich will auch nie wieder um etwas bitten.«
Ein Windstoß zauste sein Haar, brachte aber keine Antwort.
Eine junge Krähe kam über die Berge geflogen, krächzte und tanzte voller Daseinsfreude am Himmel. Von Osten hörte man Hufe donnern. Torak wusste, was das bedeutete. Es hieß, dass die Rentiere aus dem Hochmoor herunterkamen. Der Große Wald erwachte wieder zum Leben.
Torak drehte sich um und sah, dass der Weg nach Süden offen war. Wenn er wollte, konnte er zu Renn, Fin-Kedinn und den Raben zurückkehren …
Doch dann … am anderen Ufer des Eisstroms, der den Weg versperrte, jenseits der Wolken, die den Berg des Weltgeistes einhüllten … heulte ein Wolf.
Es war nicht das hohe, unsichere Jaulen eines Welpen, sondern das klare, herzzerreißende Lied eines ausgewachsenen Tieres. Und doch war es unmissverständlich Wolfs Stimme. Der Schmerz in Toraks Brust riss sich los und brach sich Bahn.
Und während Torak noch dem Klang des Wolflieds lauschte, fielen andere Wolfsstimmen ein, verwoben sich damit und lösten
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