Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
aus der es kein Erwachen mehr geben würde.
Das Gesicht des Jünglings wurde leer. Seine Züge erschlafften. Die Augen starrten ins Nichts, und aus seinem halb offen stehenden Mund begann Speichel zu tropfen, der zwei dünne, glitzernde Spuren an seinem Kinn hinabzog.
»Marius?« Andrejs Stimme war nicht mehr als ein verzweifeltes Flüstern und zugleich ein gellender Schrei, in dem alles Entsetzen und jeder Schmerz lag, die ein Mensch nur empfinden konnte.
»Marius?«, flüsterte er zum dritten Mal.
Er bekam auch jetzt keine Antwort, nicht die mindeste Reaktion, doch Scalsi machte plötzlich eine kleine Geste, woraufhin sich Schwester Innozenz zu dem Jungen beugte und ihm mit einem Tuch den Speichel vom Kinn wischte. Marius gab einen gedämpften, schrecklichen Laut von sich; etwas wie ein zufriedenes Glucksen, das man von einem kranken Tier oder auch einem Schwachsinnigen erwarten mochte.
Andrej stand auf. »Was habt Ihr ihm angetan?«, wandte er sich an Scalsi.
Der Arzt hielt seinem Blick mit einem Ausdruck von Verachtung stand. »Angetan?« Scalsis Hand machte eine Geste, deren Bedeutung Andrej nicht verstand. »Ich habe mich um ihn gekümmert. Ihr hättet keinen besseren Arzt für Euren Sohn finden können.«
Etwas bewegte sich auf Marius’ Schoß; ein struppiger Schatten, der in Andrej das unheimliche Gefühl wachrief, beobachtet zu werden. Da war etwas Kleines und Tückisches, das ihn anstarrte und mit einem einzigen Blick bis auf den Grund seiner Seele zu schauen schien. Eine schier endlose Sekunde lang lieferten sich Andrej und die Ratte ein stummes Blickduell – ein Duell, das Andrej eindeutig verlor –, dann sprang das Tier mit einem Satz von Marius’ Schoß und huschte davon.
»Was habt Ihr ihm angetan?«, fragte Andrej noch einmal. Seine Stimme bebte, aber es war auch ein Unterton von tödlicher Drohung darin, ungeachtet seiner gefesselten Hände und der hilflosen Lage, in der er sich befand.
Scalsi starrte ihn aus seinen leeren Augen an, und Andrej begriff, dass er keine Antwort bekommen würde. Er wandte sich wieder Marius zu.
Aber das war nicht mehr sein Sohn. In diesem leeren Körper wohnte kein Geist mehr. Er stand nicht länger Marius gegenüber, sondern dem Betteljungen aus London, dessen Fleisch ihm für eine Weile als Zuhause gedient hatte und das er nun nicht mehr brauchte und als leere, ausgebrannte Hülle zurückließ; ein Ding, das atmete, aß und trank und aussah wie ein Mensch, aber längst keiner mehr war. Und hätte er auch nur den Bruchteil einer Sekunde länger Zeit gehabt, dann hätte es der Worte vielleicht gar nicht mehr bedurft, die nun hinter ihm erklangen.
»Die Frage muss doch wohl eher lauten, was hast du mir angetan, Vater?«
Langsam, unendlich mühevoll, als würde er von der Hand eines unsichtbaren Riesen festgehalten und doch gleichzeitig und mit ebenso unbarmherziger Kraft zu der Bewegung gezwungen, drehte Andrej sich um. Er empfand nicht einmal Schrecken, sondern nur eine betäubende Kälte, als beginne seine Seele zu Eis zu erstarren. Ohne zu atmen, ohne zu denken, ohne dass sein Herz schlug, starrte er Corinna an, sah in das schmale, auf so entsetzliche Weise vertraute Gesicht, die feinen Züge, die denen seines Sohnes so sehr ähnelten, und die dunklen Augen, in denen er vom allerersten Tag etwas Vertrautes gesehen hatte.
»Nein«, flüsterte er. Seine Stimme war die eines Fremden, die Worte bedeutungslos. »Nicht du. Das ist nicht möglich.«
»Aber warum denn nicht, Vater?«, fragte Corinna. Aus dem Vertrauten in ihren Augen wurde etwas anderes, ein verheerter Geist, in dem drei Jahrhunderte Zorn und Hass loderten. »Ich weiß wirklich nicht, was mich mehr verletzen soll – das, was du mir angetan hast, oder der Umstand, dass du mich nicht einmal jetzt erkennst.«
Andrej wollte schreien, aber das Grauen schnürte ihm die Kehle zu. Nicht das. Nicht das! Und das Allerschlimmste war, dass sie recht hatte. Tief in sich, auf einer Ebene, die seinem bewussten Zugriff verschlossen war, hatte er es gewusst.
Corinna/Marius schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre schwarzen Locken flogen, und für einen Moment erschien noch einmal derselbe mädchenhaft-unschuldige Ausdruck auf ihrem Gesicht, der ihn so in seinen Bann gezogen hatte, bevor er wieder zum hasserfüllten Lächeln eines boshaften Kindes wurde. »Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet, Vater. Die ganze Ewigkeit. Und einen Tag.«
»Das ist nicht möglich«, flüsterte Andrej. Vielleicht
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