Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
am Leben, irgendwie.«
»Ich weiß«, flüsterte Andrej. Jetzt wusste er es. »Aber ich war gefangen in einem zerstörten Körper, Vater. Meine Knochen waren gebrochen und mein Fleisch zerrissen, aber ich war immer noch am Leben. Ich habe nach dir gerufen, Vater. In meinen Gedanken habe ich nach dir geschrien, so laut und so lange, dass du es bis ans andere Ende der Welt hättest hören müssen. Und dann bist du gekommen. Tausend Jahre lang war ich in der Hölle und habe darauf gewartet, dass mein Vater kommt und mich rettet. Und er ist gekommen.« Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete das hellrote Blut auf ihren Fingernägeln.
»Aber du hast mich nicht gerettet«, fuhr sie fort. »Du hast mich begraben, Vater. Du hast mich lebendig begraben. Ich lag in der Erde. Allein und im Dunkeln. Es ist kalt dort unten. Wusstest du, wie kalt es dort ist?«
»Du warst tot«, antwortete Andrej. »Wie hätte ich es wissen sollen?«
»Vielleicht gar nicht«, erwiderte sie ruhig. »Damals wusste ich es nicht besser, und deshalb habe ich dich gehasst. Ich habe dich verflucht, Vater. Aber nur am Anfang. Danach habe ich dich gesucht. Ein Teil von mir hat dich gesucht. Und gefunden.«
»Du warst Frederic«, sagte Andrej.
»Er und so viele andere«, bestätigte Corinna. »Weißt du, wie es sich anfühlt, langsam zu verrotten? Wie es ist, wenn du spürst, wie dein Fleisch verfault und du von Würmern und Maden aufgefressen wirst? Ja, ich war der Junge, denn du an Sohnes statt angenommen hast, nachdem du dein eigen Fleisch und Blut im Stich gelassen hattest. Und noch so viele andere. Wir haben uns oft gesehen. So viel öfter, als du auch nur ahnst.«
»Warum hast du dich nie gezeigt?«
»Ich war gefangen«, antwortete Corinna. Ganz allmählich begann schwarzer Wahnsinn ihre Augen zu füllen. »Eingesperrt in das Grab, in das du mich mit deinen eigenen Händen gelegt hast. Ich war ein Beobachter, verdammt dazu, in zwei Körpern zu existieren und das Leben zu sehen, das ich hätte leben können. Ich musste warten, bis mein Körper vollkommen zerfallen war. Weißt du, wie lange es gedauert hat?«
»Es tut mir leid«, sagte Andrej. »Ich würde es rückgängig machen, wenn ich es könnte, aber das kann ich nicht. Niemand kann Dinge ungeschehen machen.«
»Aber du kannst dafür bezahlen«, antwortete Corinna.
Als ob er das nicht schon getan hätte. Glaubte sie denn wirklich, es gäbe auch nur noch irgendetwas, was sie ihm noch antun konnte? »Dann töte mich«, verlangte er.
»Töten?« Corinna sah ehrlich überrascht aus. »Aber warum sollte ich? Du hast wirklich geglaubt, dass ich gekommen bin, um dich zu töten? Das wäre ein wenig viel Aufwand für eine solche Kleinigkeit, oder?«
Andrej schwieg. Zuvor war es nur ein Gefühl gewesen, nun wusste er: Nicht nur der Körper seines Sohnes war in jenem kalten Grab im Borsatal zerfallen. Was wiederauferstanden war, war ein boshaftes, wahnsinniges Kind. Aber ein Kind mit der Macht eines zornigen Gottes.
Seltsam – der Gedanke machte es ihm leichter, das zu ertragen, was nun kommen mochte.
»Was willst du?«, fragte er. »Mich irgendwo lebendig einmauern?«
»Der Gedanke ist mir tatsächlich gekommen«, antwortete sie, »zumal es durchaus gerecht wäre. Aber dann wäre ich nicht besser als du, meinst du nicht auch?«
»Was willst du dann von mir?« fragte er.
»Was ich von dir will?« Corinna schien wirklich über diese Frage nachdenken zu müssen. Sie seufzte. »Ich wollte von dir, was sich jedes Kind von seinem Vater wünscht, nicht mehr und nicht weniger. Aber ich werde es wohl nicht mehr bekommen, fürchte ich.« Sie bewegte sich unruhig. Die Ratte sprang von ihrem Arm, sah kurz und eindeutig vorwurfsvoll zu ihr hoch und trippelte dann davon. »Du erwartest, dass ich dich töte? Es gab eine Zeit, da wollte ich nichts mehr als das, Vater. Eine lange Zeit. All die Jahre, die ich in meinem kalten und dunklen Grab gelegen und darauf gewartet habe, dass dieser Körper endlich verrottet, in den du mich eingesperrt hattest. Oh, ja, ich wollte deinen Tod, in jeder einzelnen Sekunde, an jedem einzelnen Tag all dieser Jahre – aber dann ist mir etwas Besseres eingefallen. Dich zu töten wäre zu leicht. Der Tod schreckt dich nicht, habe ich recht?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Andrej aufrichtig. Was wusste er schon über das, was hinter der letzten Grenze wartete – wenn es da überhaupt etwas gab? Dass er den Tod so oft und so freigiebig verteilt hatte, bedeutete
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