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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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gehorsam in Bewegung, aber alles kam ihm immer … unwirklicher vor; wie eine einstudierte Szene, die vielleicht perfekt gespielt sein mochte, aber von einem Kind erdacht war.
    Da war etwas an diesem Gedanken, das wichtig war, etwas, das über sein und Corinnas Leben oder Tod entscheiden mochte, aber als er danach greifen und es ergründen wollte, entschlüpfte ihm der Gedanke – nicht wie etwas, das er aus irgendeinem Grund nicht zu fassen vermochte, sondern wie etwas, das weggezogen wurde, ihm entrungen und hastig außer Sicht gebracht.
    Dieselbe Kriegerin, die ihn gerade geschlagen hatte, ergriff nun seine Hände und band sie ihm grob auf dem Rücken zusammen; eine Kette klirrte, und er spürte das Gewicht eiserner Fesseln, die selbst seinen Kräften mühelos standhielten. Meruhe wiederholte ihre befehlende Geste, und er wurde weitergestoßen.
    Der Raum hinter der Tür war hell erleuchtet und nicht nennenswert kleiner, wirkte aber trotzdem beengt, weil sich mehr als ein Dutzend Personen darin aufhielten. Scalsi und eine schmalere, in ein schmuddelig weißes Gewand gehüllte Frau, die ihm zwar den Rücken zuwandte, die er aber trotzdem sofort als Schwester Innozenz erkannte, standen mit hängenden Schultern und gebeugtem Kopf vor einer Bank. Auf ihr saß eine Gestalt mit rückenlangem, glattem weißem Haar. Scalsi schien mit dem Jungen zu reden, doch wenn Marius antwortete, so verstand Andrej die Worte nicht.
    Sein Herz begann, schnell und hart wie eine Folge schwerer Hammerschläge zu klopfen, und seine auf dem Rücken zusammengebundenen Hände zitterten plötzlich so stark, dass die Kette zu klirren begann. Er registrierte zwei weitere Gesichter, die ihm vage bekannt vorkamen – Männer, die er in Scalsis Narrenturm gesehen hatte und die nun im Dienst einer anderen, finstereren Macht standen –, und auch mindestens einen von Scalsis Signori mit puppenhaft leerem Gesicht, der seine Muskete mit beiden Händen so fest umklammerte, dass Blut unter seinen Fingernägeln hervorquoll. Andrej hatte abermals und noch sehr viel deutlicher das Gefühl, einer Inszenierung beizuwohnen, einem Stück aus einem naiven Kindertheater, in dem er die Hauptrolle spielte und das grausam und tödlich enden würde. »Warum gehst du nicht zu deinem Sohn, Andrej?« Im allerersten Moment dachte Andrej, es wäre Meruhe gewesen, die diese Worte gesprochen hatte, dann begriff er, dass sie weiter schwieg, so, wie sie auch bisher kein einziges Wort gesagt hatte. Corinna war es, die die Frage gestellt hatte. Er war verwirrt, nicht über die Wahl ihrer Worte, wohl aber über die Art, in der sie sprach – fremd und doch vertraut –, aber auch viel zu durcheinander, um dem Gedanken zu folgen. Er stand Marius gegenüber. Er hatte seinen Sohn wiedergefunden, und so aberwitzig es ihm selbst erscheinen mochte, das allein hatte etwas Tröstliches – auch wenn er wusste, dass sein Sohn ihn jetzt töten würde. Es war vorbei, und nun würde er für das bezahlen, was er ihm angetan hatte, und das war auch richtig so.
    Meruhe wandte sich um und verließ den Raum wieder, doch Andrej sah ihr nicht einmal nach, sondern tat, was Corinna ihm gesagt hatte. Der Signori richtete seine Muskete auf ihn, und auch zwei oder drei andere Männer zogen ihre Waffen, doch niemand versuchte, ihn aufzuhalten, als er mit langsamen Schritten zu Marius ging. Dottore Scalsi und die Barmherzige Schwester richteten sich auf und traten beiseite, um den weißhaarigen Jungen wie zwei Wächter zu flankieren. Andrej blieb zwei Schritte vor ihm stehen und wartete darauf, dass etwas geschah, Marius etwas sagte oder wenigstens den Kopf hob, um ihn anzusehen.
    Nichts geschah. Der Junge saß einfach da, reglos wie eine menschengroße Puppe, für die er ihn hätte halten können, hätte er nicht das langsame, gleichmäßige Schlagen seines Herzens gehört. Wenn er seine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis nahm, so reagierte er nicht darauf.
    »Marius?«, flüsterte Andrej. Er wollte weitergehen, doch nun legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter und hielt ihn zurück. Andrej ließ sich halb in die Hocke sinken, um in Marius’ Gesicht blicken zu können. Es war, als bliebe die Welt stehen und er starre in einen Zerrspiegel, aus dem ihm der schiere Wahnsinn entgegenlächelte.
    Es war nicht das Gesicht aus seinem Traum. Das Borsatal erlosch, die letzten Schemen des Albtraums verblassten, und er stürzte in eine andere, noch viel schlimmere Vision, eine Wirklichkeit gewordene Hölle,

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