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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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formten seine Lippen die Worte auch nur. Sie waren nicht wahr. Es war möglich. Er wusste es. Irgendwie hatte er es die ganze Zeit über gewusst, ohne dass dieses Wissen seine Gedanken erreicht hatte, dennoch musste er die Worte aussprechen, und sei es nur, um sich an irgendetwas zu klammern und nicht vollends den Verstand zu verlieren.
    Sein Blick irrte zwischen den leeren Zügen des weißhaarigen Knaben und Corinnas mädchenhafter Schönheit hin und her, und es wurde jedes Mal schlimmer, die Ähnlichkeit jedes Mal um eine Winzigkeit größer, als sauge sie nun auch seine körperliche Erscheinung auf. Andrej bemerkte erst jetzt, dass sich die Ratte nun behaglich in Corinnas Armbeuge zusammengekuschelt hatte; Marius’ treuer Freund, der seinen Herrn erkannte, gleich in welcher Gestalt.
    »Dabei hast du es mir doch selbst erzählt«, fuhr Corinna fort, machte ein nachdenkliches Gesicht und legte stirnrunzelnd den Kopf zur Seite. »Oder damals noch ihr, oder …« Sie hob die Schultern. »Ja, ich gestehe, es ist kompliziert. Aber du hast es – wem auch immer – erklärt, erinnerst du dich?«
    Wie hätte er antworten können? Er war noch immer in einem Käfig aus purem Entsetzen gefangen, aus dem es vielleicht nie wieder ein Entkommen geben würde. Alles drehte sich um ihn. Er wankte, und dieselbe Hand, die ihn gerade festgehalten hatte, musste ihn jetzt stützen, damit er nicht auf die Knie sank.
    »Warum hast du mir das angetan, Vater?« Corinnas Lächeln erlosch, und ihr Gesicht wurde zu einer bleichen Maske aus kaltem Porzellan. Ihre Hand kraulte die Ratte. »Ich hatte so große Angst, Vater. Ich war doch noch ein unschuldiges Kind, und ich wusste von nichts.«
    »Aber ich doch auch nicht«, murmelte er. Woher denn? Er hatte doch selbst nicht gewusst, was er war, an jenem entsetzlichen Tag, nach dem in seinem Leben nichts mehr so war, wie es sein sollte.
    »Ich war noch ein Kind«, fuhr seine Nemesis fort, nunmehr mit traurigem Gesicht und verstellter, verängstigter Kinderstimme. »Ich hatte so große Angst. Alle waren fort, und da waren fremde Männer, die mir noch mehr Furcht eingejagt haben, und dann haben sie mir wehgetan. Schrecklich weh, so schlimm, wie ich es mir nie hätte vorstellen können.«
    Sie trat auf ihn zu, bis sie nahe genug war, dass er den Duft ihrer Haut und den verbrannten Geruch, den ihr Haar verströmte, riechen konnte. Langsam hob sie die Hand, glitt behutsam mit den Fingerspitzen über seine Wange und streichelte ihn beinahe sanft. Sein Blick tastete über ihr Gesicht, ihre zu gleichen Teilen entsetzlichen wie wunderschönen Züge, die Augen, in denen er sich immer noch zu verlieren drohte, und die vollen Lippen, die er noch immer begehrte.
    Dieser Gedanke erfüllte ihn mit blankem Entsetzen. Obwohl Andrej wusste, dass dieses Begehren nicht sein eigenes war, nahm dieses Wissen nichts von der Schärfe, die sich wie Säure in seine Seele fraß.
    »Sie haben mir wehgetan«, sagte Corinna noch einmal, und aus dem sanften Streicheln ihrer Fingerspitzen wurde brennender Schmerz, als ihre Nägel in seine Haut schnitten. Und in gleichem Maße, in dem sich die Krallen des Ungeheuers in sein Fleisch gruben, spürte er, wem er wirklich gegenüberstand. »Ich habe sie angefleht, damit aufzuhören. Ich habe gebettelt und geschrien und geweint. Ich war doch noch ein Kind, und ich wusste nicht einmal, was sie von mir wollten oder warum sie mir das antaten.«
    »Es gab keinen Grund«, sagte Andrej leise. »Es galt nicht dir. Nicht einmal mir. Sie waren einfach nur grausam!«
    Die Fingernägel gruben sich tiefer in seine Wange, und warmes Blut lief über sein Gesicht. Er spürte den Schmerz nicht. »Sie haben immer weitergemacht. Ich habe geschrien und geweint und gebettelt, aber sie haben nicht aufgehört, und irgendwann konnte ich nicht mehr schreien. Ich habe gewartet, Vater. Ich war ein kleines Kind, das auf seinen Vater gewartet hat. Darauf, dass er kommt.«
    Ihre Fingernägel bohrten sich noch tiefer in sein Fleisch. Jetzt begann er, den Schmerz zu spüren, und das Blut lief in Strömen über sein Gesicht, aber er hieß beides willkommen, war es doch die einzige Buße, die er im Moment tun konnte. Aber sie brachte keinen Trost und schon gar keine Absolution. Nicht für das, was er getan hatte, und nicht von dem Ungeheuer, das er damit erschaffen hatte. »Und irgendwann war ich tot«, fuhr Corinna fort. »Aber weißt du was? Etwas Seltsames geschah. Ich war tot und zugleich auch nicht. Ich war noch

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