Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
ein anderes Augenpaar, dunkler und verzehrender, wie zwei Feuerräder, die aus den tiefsten Tiefen der Hölle emporgestiegen waren, um ihn zu verbrennen, und eine Stimme wehte herauf: Warum hast du mich alleingelassen? So lange. So unendlich lange.
Er konnte nicht sagen, ob er geschrien hatte. Seine Kehle schmerzte, vielleicht aber auch wegen der Anstrengung, mit der er gegen die Tränen gekämpft hatte. Abu Dun jedoch sah ihn alarmiert an, und die beiden Frauen ein wenig erschrocken.
Schwester Innozenz räusperte sich. »Wenn … Ihr mir dann folgen würdet, Signori. Der Dottore wartet, und meine Schwestern und ich haben noch viel zu tun.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie auf dem Absatz herum und stürmte so forsch aus dem Raum, dass Abu Dun hastig zur Seite trat, um nicht umgerannt zu werden. Kopfschüttelnd sah der nubische Riese ihr nach, bedachte Andrej noch mit einem weiteren, dieses Mal besorgten Blick und folgte ihr.
Andrej löste Marius’ Finger behutsam von seinen, stand auf und wollte dem Nubier folgen, verhielt aber noch einmal, als er Corinnas Blick begegnete. In ihm las er ein so tief empfundenes Mitgefühl, dass es sich wie eigener Schmerz anfühlen musste.
Ihre Hand berührte seinen Arm so leicht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, und doch so wohltuend, dass er schauderte. »Willst du darüber reden?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Andrej. »Aber nicht hier.«
Mit einem Ruck wandte er sich zum Gehen um. Er wartete zwar, bis das Mädchen vor ihm die Zelle verlassen hatte, verbot es sich aber selbst, sich an der Tür noch einmal zu Marius herumzudrehen, sondern machte nur einen raschen Schritt zur Seite, damit Schwester Innozenz die Tür schließen und einen Riegel vorlegen konnte, der ihm fast zu schwer erschien, um von ihren schmalen Händen bewegt zu werden. Befriedigt stellte er fest, dass die Barmherzige Schwester nicht nur ihre selbst gewählte Aufgabe sehr ernst nahm, sondern auch die Anweisungen, die ihr bezüglich ihres seltsamen Patienten gegeben worden waren. Schließlich wusste er am besten, wozu dieser Jüngling mit den engelhaften Zügen fähig war.
Sie folgten Innozenz eine kurze Treppe aus dem Keller heraus (dessen bloße Existenz in dieser Stadt ihn überrascht hatte). Oben angekommen, drehte sie einen Schlüssel in einem schweren Vorhängeschloss, dessen Bügel so gut geölt war, dass selbst Andrejs scharfe Ohren nur ein ganz leises Klicken wahrnahmen.
»Es ist eine Schande«, murmelte sie, während sie den Schlüssel in einer der zahlreichen Taschen ihrer Schwesterntracht verschwinden ließ. Es klirrte, als trüge sie darin noch andere Dinge aus Metall. Möglicherweise scharfe.
»Was ist eine Schande?«, fragte Corinna.
»Was man diesem Jungen antut«, antwortete Schwester Innozenz, allerdings an Andrej gewandt und in vorwurfsvollem Ton. »Er wird dort unten gefangen gehalten wie ein gefährliches Tier!«
»Und das aus gutem Grund«, sagte Abu Dun. Corinna zog die Braue hoch.
»Er liegt in Ketten, jede einzelne Stunde an jedem einzelnen Tag, den Gott hat werden lassen«, sagte Schwester Innozenz. Ihre Augen loderten vor Zorn. »Er ist hinter zwei Türen eingesperrt, und er sieht nie das Licht des Tages! Niemand darf mit ihm reden oder ihn auch nur anrühren! Was hat dieser arme Junge getan, um eine solche Strafe zu verdienen?«
Abu Dun warf ihm einen warnenden Blick zu, und auch Andrejs innere Stimme – ebenso wie sein Verstand – schrien ihm zu, jetzt besser nichts mehr zu sagen, aber er konnte nicht anders. Warum, Vater? Was habe ich dir getan?
»Gar nichts«, sagte er, wie zur Antwort auf beide Fragen. »Mein Sohn hat sich nichts zuschulden kommen lassen, weder nach den Gesetzen der Menschen noch nach denen Gottes. Aber das ändert nichts daran, dass er gefährlich ist. Er hat schlimme Dinge getan. Sehr schlimme Dinge. Aber es ist nicht seine Schuld.« Wenn jemand die Schuld daran trug, was aus Marius geworden war, dann er. Aber wie hätte er es wissen können? »Dennoch muss man die Menschen vor ihm schützen.«
»Und ihn auch vor sich selbst, nicht wahr?«
»Woher wisst Ihr das, Schwester?«, fragte Abu Dun scharf.
»Weil es derselbe gotteslästerliche Unsinn ist, den auch der Dottore immer redet!«, antwortete Innozenz, plötzlich aufgebracht. »Einen armen Jungen, den man vor sich selbst schützen muss! Das ist Häresie! Dieses Kind ist unschuldig!«
»Und das wisst Ihr genau?«, fragte Abu Dun. »Hat Gott es Euch gesagt,
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