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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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Wort überwinden zu müssen. Schwester Innozenz wandte sich gehorsam zur Tür, und Andrej wollte ihr gerade folgen, als er eine Spiegelung in Abu Duns dunklen Augen wahrnahm und dass Corinna erschrocken die Hand vor den Mund schlug. Er fuhr mit einer Bewegung herum, die schneller war, als dass ein Auge ihr hätte folgen können, zog seine Waffe und bemerkte erst dann seinen Irrtum: Es war nicht Marius, der sich bewegt hatte. Der Junge saß noch immer genauso reglos da wie seit einem halben Jahr, den Blick ins Leere gerichtet und die Hände mit gepolsterten Eisenringen aneinandergefesselt, damit er sich nicht wundscheuerte.
    Die Bewegung, die er in Abu Duns Augen gesehen hatte, war nicht die seine gewesen, sondern die von etwas Kleinem und Struppigem, das nun über ihn hinweg huschte und in einem Loch in der Wand verschwand. Ein rosafarbener nackter Schwanz, wie eine zuckende Peitschenschnur, verschmolz mit den Schatten.
    »Eine Ratte?«, fragte Abu Dun – auf Arabisch, worauf Schwester Innozenz ihn mit Blicken durchbohrte. Doch der Nubier fuhr, wieder ins Italienische wechselnd, unbeeindruckt fort: »Ja, das passt. Ich glaube, Ihr habt die Wahrheit gesagt, Schwester. Anscheinend sorgt Ihr wirklich gut für alles hier. Die Ratte jedenfalls sah sehr wohlgenährt aus.«
    »Das Tier ist vollkommen harmlos«, antwortete Innozenz in leicht trotzigem Ton.
    Abu Dun wollte antworten, aber Andrej kam ihm zuvor. »Das
     
    Tier?«
    »Am Anfang haben wir sie verjagt«, antwortete Innozenz, jetzt widerwillig. Andrej vermutete zuerst, dass sie Marius nur ansah, um seinem Blick auszuweichen, doch dann fiel ihm die Weichheit auf, die noch nicht da gewesen war, als sie Abu Dun und ihn angesehen hatte, und die ihn an den Ausdruck in Corinnas Augen erinnerte. Sie sorgte sich wirklich um den Jungen. Der Gedanke sollte ihn beruhigen, tat es aber nicht.
    »Irgendwann ist uns aufgefallen, dass es immer dasselbe Tier war. Sie tut ihm nichts. Manchmal scheint es mir sogar, als täte das Tier ihm gut.«
    »Gut?«, wiederholte Corinna. »Es ist eine Ratte!«
    »Ich … bin nicht sicher«, antwortete Schwester Innozenz ausweichend, »aber vielleicht … vielleicht ist sie ja so etwas wie sein Freund.«
    »Eine Ratte?« ,ächzte Abu Dun.
    Schwester Innozenz sah Andrej an, nicht Abu Dun, als sie mit fester Stimme antwortete. »Jemand anders gab es ja nicht, der sich um ihn kümmerte.«
    »Außer Euch«, sagte Abu Dun.
    »Es war gewiss nicht meine Idee, den armen Jungen in Ketten zu legen und hier einzusperren«, versetzte Schwester Innozenz, ohne dass ihr Blick den Andrejs losließ. »Wollt Ihr jetzt den Dottore sehen, Signore Delãny?«
    Andrej nickte zwar erleichtert, wandte sich aber trotzdem noch einmal der weißhaarigen Gestalt auf dem Bett zu und versuchte, ihren Blick einzufangen, obwohl er doch genau wusste, dass es ihm nicht gelingen würde.
    Als Corinna fragte: »Andrej?«, begriff Andrej mit sachtem Erschrecken, wie lange er reglos dagestanden und Marius angestarrt hatte. Er bedeutete ihr mit einer Geste zu schweigen, ging in die Knie und tat genau das, woran er sie eben fast gewaltsam gehindert hatte: Unendlich behutsam streckte er sowohl die Hand als auch seine geistigen Fühler aus.
    Marius’ Haut fühlte sich kalt an und so glatt und leblos wie Porzellan, und wenn da noch so etwas wie ein Bewusstsein war, dann hatte es sich so tief unter die Leere zurückgezogen, dass er nicht einmal mehr ein Echo davon spürte. Die Angst befiel ihn, dass das einzig Lebendige, was von seinem Sohn noch existierte, das Ungeheuer aus seinen Träumen war und er sich nur einer Hülle gegenübersah, einem grässlichen seelenlosen Golem, der nur noch aus dem einzigen Grund existierte, ihn zu verhöhnen und den Pfeil aus Schmerz noch tiefer in sein Herz zu treiben. Brennende Nässe füllte plötzlich seine Augen, und er wollte Marius’ Hand loslassen. Doch nun war es, als hielten die schmalen Finger des Knaben seine Hand mit einer eisernen Kraft fest, der er nichts entgegenzusetzen hatte.
    »Andrej?«, fragte Corinna noch einmal. Jetzt klang sie fast ein bisschen ängstlich.
    »Es ist … alles in Ordnung«, brachte er mühsam heraus. Nichts, aber auch rein gar nichts war in Ordnung, und auch der Klang seiner eigenen Stimme vermochte den Bann nicht zu brechen. Er war in etwas gefangen, das ihm unbekannt war, etwas unerträglich Grauenhaftem. Wie gelähmt saß er da und blickte in Marius’ leeres Gesicht und seine seelenlosen Augen, und zugleich war da

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