Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Schwester?«
»Gott hat uns nicht so geschaffen, dass wir uns selbst etwas zuleide tun! Der Mensch wird unschuldig geboren, und alles Schlechte, was er tut, kommt ganz allein von ihm selbst!«
»Und alles Gute ganz allein von Gott«, fügte Abu Dun mit einem bedächtigen Kopfnicken hinzu. »Eine etwas einseitige Theorie, will mir scheinen … aber ich werde darüber nachdenken.«
Schwester Innozenz setzte zu einer noch schärferen Entgegnung an, doch da erklang hinter Andrej eine leise, tadelnde Stimme: »Euer Vertrauen in Gott in Ehren, Schwester, aber wenn er nicht wollte, dass wir unser Leben selbst gestalten, warum hätte er uns dann wohl einen freien Willen gegeben?«
Andrej und der Nubier wandten sich gleichzeitig um und sahen sich einem schmalbrüstigen alten Mann gegenüber, der kaum größer war als die Ordensschwester, aber mindestens noch einmal zwanzig Jahre älter. Er hatte gütige Augen, fand Andrej, aber auch ein Gesicht, das nicht nur von Alter gezeichnet war, sondern auch von einem vagen Schmerz, der im Laufe viel zu vieler Jahre zu einem Misstrauen gegen alles und jeden geführt hatte. Zwar lächelte er, als er auf Andrej zutrat und zuerst ihm und dann Abu Dun die Hand entgegenstreckte, und Andrej spürte auch, dass dieses Lächeln nicht gespielt war. Doch zugleich nahm er auch eine Reserviertheit wahr, die nicht feindselig, dennoch aber präsent war.
»Signore Delãny, nehme ich an. Mein Name ist Scalsi. Allessandro Scalsi.« Dass er Abu Dun nicht mit Namen ansprach, musste nichts bedeuten – das taten die wenigsten, selbst die nicht, die um die wirkliche Bedeutung von Abu Duns Namen wussten –, doch er wich auch Abu Duns Blick aus, was der Nubier mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln quittierte.
»Dottore Scalsi« ,fügte Schwester Innozenz hinzu. Scalsi sah fast schuldbewusst aus, und erst dann hörte Andrej den tadelnden Ton in Innozenz’ Stimme – der ganz eindeutig dem Doktor galt, nicht ihnen.
Der Arzt ließ einen gleichermaßen verwirrten wie tadelnden Blick in die Runde schweifen, wobei er jetzt auch Abu Dun ansah, wandte sich dann aber Corinna zu, und seine Miene veränderte sich augenblicklich. Mit ehrlicher Freude trat er auf sie zu und ergriff ihre ausgestreckte Rechte mit beiden Händen, eine fast großväterlich anmutende, warme Geste. »Signorina! Wie schön, Euch endlich wieder einmal hier zu sehen! Was haben wir Euch getan?«
»Nichts, mein lieber Dottore« ,antwortete Corinna. »Ich bin es, die sich entschuldigen muss, Euch so lange vernachlässigt zu haben. Ich habe schon zu Schwester Innozenz gesagt, dass ich Besserung gelobe.« Sie setzte ein schuldbewusstes Gesicht auf. »Es muss ein Jahr her sein.«
»Mindestens«, bestätigte Scalsi. Er ließ endlich Corinnas Hand los und drohte ihr spielerisch mit dem Finger. »Aber lasst das nicht zu einer schlechten Angewohnheit werden, Contessa. Ich bin ein alter Mann. Wenn ihr mich nur noch im Jahresabstand besucht, dann könnte jedes Treffen unser letztes sein.«
»Jetzt übertreibt aber nicht«, erwiderte Corinna und drohte nun ihrerseits ihrem greisen Gegenüber mit dem Zeigefinger. »So alt seid Ihr nun auch noch nicht, Dottore. Wir werden noch öfter Gelegenheit haben, miteinander zu reden, als Euch lieb ist. Ihr wisst doch, wie schwatzhaft ich sein kann. Aber jetzt solltet Ihr mit meinem Freund Andrej reden, denke ich. Er hat einen weiten Weg auf sich genommen, um Euch zu sehen.«
Scalsi machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, wandte sich aber dennoch wieder zu Andrej um. Das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch.
»Ja, zweifellos. Ihr habt Euren Sohn schon gesehen, Signore Delãny?«
Es war eine rhetorische Frage, auf die Andrej auch nur mit einem angedeuteten Nicken reagierte, aber Abu Dun knurrte:
»Ja, und auch seinen Freund, die Ratte.«
Scalsi runzelte die Stirn, und sein Mund wurde zu einem dünnen, faltigen Strich. Dann warf er einen nachdenklichen Blick auf die geschlossene Tür hinter Andrej, enthielt sich aber jeglichen Kommentars, und auch Andrej selbst beließ es bei einem mahnenden Blick auf Abu Dun und schloss sich Scalsi an, als dieser sich umwandte und den Raum verließ, um in den winzigen Innenhof der Turmruine hinauszutreten.
Andrej blinzelte abermals ins helle Licht der Sonne, das nach dem Dämmerlicht der winzigen unterirdischen Zelle wie mit dünnen Nadeln in seine Augen stach. In der Helligkeit empfand er die plötzliche Kälte besonders intensiv. Neben ihm schlang auch Abu Dun ganz
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