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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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war nahezu unerträglich.
    Und schlimmer noch war das, was ihm seine Sinne über die Zellen verrieten, deren Türen geschlossen waren: Da war ein Wimmern und Weinen, ein Wehklagen und stummes Schluchzen, aber auch Geschrei und zorniges Kreischen und Gebrüll, und an mehr als einer Tür wurde von innen mit den Fäusten gehämmert und mit Fingernägeln gekratzt, als hätten diejenigen, die dahinter eingesperrt waren, auf geheimnisvolle (und doch unmögliche) Weise gespürt, dass sie nicht mehr allein waren. Es war gerade einmal ein halbes Dutzend Türen, doch was in seinen Ohren und seiner Seele widerhallte, das war das Wehklagen Tausender gepeinigter Seelen, als höre er nicht nur das Weinen derjenigen, die jetzt hier eingesperrt waren, sondern auch die Klagen all der Unzähligen, deren Leid zuvor in den Stein, der sie umgab, gesickert war.
    Scalsi trat an die gegenüberliegende Tür, bedeutete ihm mit einer fast unwilligen Geste, ihm nachzukommen, und öffnete dann die vergitterte Klappe. Übelkeit erregender Gestank schlug ihnen entgegen, gefolgt von einem Geräusch wie dem Knurren eines wütenden Tieres, das dahinter eingesperrt war. Abu Dun verzog angeekelt das Gesicht, gehorchte aber Scalsis befehlendem Wink als Erster und beugte sich weit genug vor, um durch die Klappe zu sehen. Das Knurren hinter der Tür wurde lauter und klang jetzt eher wie ein fauchendes Bellen.
    Nach einer Weile und mit nach wie vor steinerner Miene trat der Nubier zurück und bedeutete Andrej, seinen Platz einzunehmen. Andrej gehorchte, und gleichzeitig streckte er seine geistigen Fühler aus und tastete nach dem Bewusstsein auf der anderen Seite der Tür.
    Er hätte nicht sagen können, was schlimmer war: das, was er sah, oder das, was er spürte.
    Er fühlte einen verheerten Geist, ein Bewusstsein, das in die Hölle geschleudert worden war und seit tausend Ewigkeiten Qualen litt, sodass es schon lange zu keinen anderen Empfindungen mehr fähig war als Hass und Wut und Zorn und mörderischer Eifersucht auf alles, was dachte und fühlte und nicht litt. Andrejs Geist prallte vor diesem Bewusstsein zurück wie eine Hand, die glühender Kohle zu nahe gekommen ist. Plötzlich war ihm, als habe er sich besudelt und mit einer üblen Krankheit angesteckt. Denn seine Augen zeigten ihm einen heruntergekommenen nackten Mann, der fünfzig Jahre alt sein konnte, ebenso gut aber auch schon achtzig, oder erst dreißig. Er hatte rückenlanges, strähnig-verdrecktes Haar, einen ungepflegten Bart und faulende Zähne. Von seinem Gesicht war wenig mehr zu erkennen als der schmerzverzerrte Ausdruck. Irgendwann einmal musste dieser Mann eine stattliche Erscheinung gewesen sein, jetzt war er fast bis zum Skelett abgemagert. Seine Haut starrte vor Dreck und war mit Pusteln und entzündeten Stellen ebenso übersät wie mit schlecht verheilten Wunden und alten Narben. Der Gestank, den die bejammernswerte Gestalt verströmte, nahm ihm den Atem – was daran liegen mochte, dass der Gefangene sich mit seinem eigenen Kot und Urin beschmiert hatte. Als er Andrejs ansichtig wurde, warf er sich mit einem schrillen Heulen vor und wurde nach kaum einem Schritt von den schweren Ketten zurückgerissen, die ihn an die Wand fesselten. Er begann zu schreien, unartikulierte Laute der Wut, die etwas in Andrej berührten und ihn sich vor Entsetzen krümmen ließen.
    »Warum ist er nackt?«, fragte Abu Dun.
    »Das ist Giacomo«, sagte Scalsi, ohne zunächst auf Abu Duns Frage einzugehen, an Andrej gewandt. Beiläufig fragte er sich, was der Arzt eigentlich damit beabsichtigte – wollte er herausfinden, wie lange er den Nubier noch reizen konnte, bevor dieser ihm den Arm auskugelte? »Niemand weiß, wie er wirklich heißt oder was seine Geschichte ist oder wo er herkommt. Er wurde vor drei Jahren hergebracht. Jemand hat ihn an Händen und Füßen gefesselt und einfach vor das Tor gelegt. Seither kümmern sich Innozenz und ihre Barmherzigen Schwestern um ihn.«
    »Kümmern?«, spie Abu Dun verächtlich hervor. »Das nennt Ihr kümmern?«
    »Wäre er nicht hier, dann wäre er schon lange tot«, fuhr Scalsi unbeeindruckt fort. »Jemand hätte ihn erschlagen, sei es nur, um sein eigenes Leben zu retten, oder er wäre verhungert oder hätte sich selbst etwas angetan.«
    Sein Blick streifte nun doch – kurz – Abu Duns Gesicht, und für genau diesen winzigen Moment erschien etwas in seinen Augen, das Andrej ganz und gar nicht gefiel. »Und nackt und gefesselt ist er, weil er sich

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