Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
und Andrej wandte sich wieder an den Arzt. »Noch einmal: Was ist hier passiert?«
Schwester Innozenz wollte etwas sagen, verstummte aber dann, als sie seinem Blick begegnete, und Scalsi schien regelrecht zu schrumpfen, fasste sich aber auch erstaunlich schnell wieder und sah ihn fest an, auch wenn Andrej spürte, welch große Überwindung es ihn kostete.
»Wie ich es sagte: Ein schreckliches Unglück. Eine wirklich schlimme Sache, aber ich kann Euch versichern, dass Euer Sohn nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde und wohl auch gar nichts davon gemerkt hat.«
»Das reicht mir nicht«, sagte Andrej. Und er spürte auch, dass der Mann nicht die Wahrheit sagte.
»Es gab …« Scalsi verlor seine Selbstsicherheit ebenso schnell wieder, wie sie gekommen war. Er wich Andrejs Blick aus und begann, sich unruhig auf der Stelle zu bewegen.
»Wirklich, es war ein schreckliches Unglück, nicht mehr.«
»Ein Unglück.« Abu Dun kam näher und machte ein abfälliges Geräusch, aber sein Blick fixierte weiter die blutende Hand des Verletzten. »Was genau ist denn geschehen? Ist sein Pferd durchgegangen, oder hat ihn ein Blitzschlag aus heiterem Himmel getroffen?«
»Dein Spott ist unangebracht, schwarzer Mann«, sagte Scalsi. »Ich sage es gerne noch einmal: Es war ein Unglück, an dem niemand die Schuld trifft. Und wenn, dann allerhöchstens mich. Der Mann in dieser Zelle war tobsüchtig, und wir haben beschlossen, ihn hier herunterzubringen und in Ketten zu legen, zu seiner eigenen Sicherheit und der der anderen. Ich selbst habe seine Fesseln überprüft, und ich war sicher, dass sie halten würden. Irgendwie ist es ihm gelungen, seine Ketten zu lösen und sich selbst zu töten. Es war kein schöner Anblick, und ich mache mir schwere Vorwürfe, nicht besser auf ihn achtgegeben zu haben, aber es ist nun einmal geschehen, und ich kann es nicht wieder rückgängig machen.«
»Wie bedauerlich«, sagte Abu Dun böse. Er kam einen weiteren Schritt näher, und Andrej versuchte sich unauffällig so zu postieren, dass er das Blut auf der Hand des Mannes nicht sehen konnte, was ihm aber nicht gelang. Etwas geschah, und es war ganz und gar nicht gut. Sie mussten hier heraus. Schnell.
»Wie dem auch sei«, sagte er rasch, und bevor Scalsi etwas erwidern konnte, was Abu Dun Anlass zu einer weiteren Spitze gab – ganz egal, was es auch sein mochte. »Wir sind nur gekommen, um Euch davon zu unterrichten, dass wir Venedig morgen früh verlassen werden. Und wir nehmen Marius mit.«
Scalsi wirkte regelrecht schockiert. »Morgen?«
»In aller Frühe«, bestätigte Andrej. »Ich möchte Euch bitten, alles Notwendige zu veranlassen, damit wir ihn bei Sonnenaufgang abholen können.«
»Aber so schnell …«, stammelte Scalsi, brach ab und schüttelte den Kopf. Mühsam beherrscht setzte er neu an. »Ich weiß nicht, ob das so rasch möglich ist.«
»Wisst Ihr überhaupt, was Ihr Eurem Sohn damit antut, Signore Delãny?«, mischte sich Schwester Innozenz ein, die ihre Überraschung überwunden hatte und sich nun auf ihre gewohnte Art empörte. »Das ist unverantwortlich!«
»Unverantwortlich wäre es, ihn weiter hierzulassen«, antwortete Andrej kühl. »Ich danke Euch für alles, was Ihr getan habt, Schwester, und Euch auch, Doktor Scalsi, aber mein Entschluss steht fest. Wir sehen uns dann morgen früh.«
Er warf Abu Dun und Corinna einen auffordernden Blick zu und drehte sich rasch um, und vielleicht wäre alles gut gegangen und nichts geschehen, wenn nicht der Dottore, der sich offenbar daran erinnerte, wer er war, unerwartet schnell seine Sprache wiedergefunden hätte.
»Das geht nicht!«, sagte er. »Hört Ihr, was ich sage? Das geht nicht!« Mit einem überraschend schnellen Schritt vertrat er Andrej den Weg und gab sich zumindest Mühe, Autorität zu verströmen. »Hört Ihr? Ich verbiete es!«
Andrej beschloss, nicht zu antworten, und machte einen halben Schritt zur Seite, um um Scalsi herumzugehen, als eine kräftige Hand, die nach süßem Blut roch, sich auf seine Schulter legte und ihn unsanft zurückriss. »Der Dottore hat gesagt, er verbietet es!«
Andrej griff, ohne auch nur hinzusehen, nach dem zu der Hand gehörigen Gelenk, verdrehte es mit einem harten Ruck und brachte den Mann aus dem Gleichgewicht, sodass dieser gegen die Wand stolperte und beinahe gestürzt wäre.
»Dann also bis morgen früh, Dottore«, sagte er und wollte endgültig gehen, kam aber auch diesmal kaum einen Schritt weit.
»Der Dottore hat es
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