Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
verraten, was in diesem Raum passiert ist. Wenn du das tust, dann sage ich dem Dottore nicht, was du gemacht hast.«
Der Mann dachte einen Moment lang angestrengt stirnrunzelnd über diesen Vorschlag nach und nickte dann bedächtig. »Das versprichst du?«
»Mein Ehrenwort.« Andrej legte sich die rechte Hand aufs Herz.
»Da war Blut«, antwortete der Große. »Ganz viel Blut. Und ein Mann, der war tot. Aber er war ganz schlimm tot. Wir haben alles weggemacht, aber es war ganz schlimm, und der Dottore hat gesagt, dass wir keinem etwas sagen dürfen.«
»Das werde ich auch nicht«, versprach Andrej. »Keine Angst. Es bleibt unser Geheimnis.« Er ließ dem Mann noch Zeit, in seinem Gesicht zu lesen und sich davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sagte, dann nahm er eine der Fackeln von der Wand, trat wieder an die Tür heran und schwenkte sie. Rotes Licht huschte durch den winzigen steinernen Würfel. Abgesehen von der fast unheimlichen Illusion von Leben, das der Fackelschein erweckte, war die Zelle leer.
»Schaurig, nicht?« Corinna war neben ihn getreten und wagte es genauso wenig wie er, noch einmal ganz in diesen unheimlichen Raum hineinzugehen. »Und ich hätte geschworen, dass ich etwas gehört habe. Und gespürt.« Sie schauderte übertrieben. »Wahrscheinlich bin ich nur ein hysterisches altes Weib.«
»Du bist nicht alt«, antwortete Andrej, während er die Fackel ein weiteres Mal und noch langsamer schwenkte. Das feurige Licht huschte zitternd hin und her, enthüllte auch noch den letzten Winkel und zeigte ihm, dass die Zelle tatsächlich leer war.
»Danke! Das heißt dann wohl, dass ich hysterisch bin«, seufzte Corinna. Dann, nach einer kurzen Weile: »Hast du noch mehr Kinder, Andrej?«
»Jedenfalls nicht dass ich wüsste«, antwortete er. »Warum?«
»Nach dem, was ich gerade gehört habe, glaube ich, dass du ein wirklich guter Vater sein könntest«, sagte Corinna. Sie lachte leise. »Wenn auch wahrscheinlich der reine Albtraum für deine Kinder.«
Andrej fand nicht, dass dies der passende Moment (oder gar die Umgebung) für solche Gespräche war, und schwieg. In diesem Augenblick hörte er Schritte hinter sich, und eine aufgebrachte Stimme, die rief: »Was zum Teufel geht hier vor?«
Andrej trat aus der Zelle heraus, hielt die Fackel so, dass die Flammen möglichst weit von Corinnas Gesicht entfernt waren. Abu Dun, Schwester Innozenz und der Dottore waren am anderen Ende des schmalen Korridors erschienen, und sowohl Scalsi als auch die Barmherzige Schwester beschleunigten mit empörten Mienen ihre Schritte, während Abu Dun beinahe gemächlich hinter ihnen hertrottete und die so radikal veränderte Szenerie allenfalls mit geringem Interesse musterte.
»Ich habe gefragt, was vorgefallen ist!«, herrschte Scalsi sie an.
»Eine gute Frage«, erwiderte Andrej. »Ich wollte gerade dieselbe stellen, ist das nicht ein Zufall?« Er machte eine Kopfbewegung, um hinter sich zu deuten. »Was ist hier passiert?«
»Ein … ein Unfall« Scalsi war einer der schlechtesten Lügner, dem Andrej jemals begegnet war, aber auch sehr zornig. Mit wenigen schnellen Schritten war er bei dem verwundeten Mann, der noch immer mit weit aufgerissenen Augen dasaß und Andrej ebenso ängstlich wie beinahe flehend anstarrte, untersuchte flüchtig seine immer noch blutende Hand und versuchte dann, dem viel größeren und sicherlich doppelt so schweren Burschen auf die Beine zu helfen – was ihm zwar gelang, aber einigermaßen komisch aussah. Erst dann – und in kein bisschen weniger barschem Ton – fügte er hinzu: »Und ich wüsste auch nicht, was Euch das anginge, Signore Delãny!«
»Mein Sohn befindet sich hier«, erinnerte Andrej überflüssigerweise. »Wenn es hier also einen Toten gegeben hat, dann geht mich das sehr wohl etwas an, Dottore.« Sein Blick streifte Abu Duns Gesicht und sah, dass dieser zwar in einigen Schritten Abstand haltgemacht hatte und Scalsi und den großen Mann neben ihm scheinbar nachdenklich betrachtete, aber Andrej wusste sehr wohl, was er wirklich anstarrte. Es war das Blut auf dessen Hand. Nicht einmal besonders viel: Seine Knöchel waren zerschrammt, und ein Splitter hatte sich in seinen Handrücken gebohrt und ihm eine eher harmlose Fleischwunde zugefügt. Aber auch er konnte den Geruch des Blutes wahrnehmen, diese sachte, aber unendlich süße Verlockung. In Abu Duns Augen war eine Gier erschienen, die ihm nicht gefiel.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
Der Nubier nickte,
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