Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
den Regen und ging zur nächsten Ecke. Hübsch, diese geschäftige kleine Straße. Der Blumenhändler unter dem Baldachin verkaufte noch immer seine Pflanzen, beim Metzger drängten sich die Feierabendkäufer, hinter den Fenstern der Cafes nahmen die Sterblichen ihr Abendessen ein oder blätterten müßig in ihren Zeitungen. An der Bushaltestelle warteten Dutzende von Menschen, und vor dem alten Filmtheater gegenüber hatte sich eine Schlange gebildet. Sie war hier, Gabrielle. Er spürte es.
Als er den Bordstein erreicht hatte, blieb er an der Straßenlaterne stehen und atmete den kühlen Wind ein, der von den Bergen wehte. Man hatte einen schönen Blick auf die Innenstadt und die volle Länge der leicht abfallenden Market Street.
Fast ein Pariser Boulevard.
Ja, aber wo genau war sie? Gabrielle, flüsterte er. Er schloß die Augen. Er lauschte.
Zunächst strömte das grenzenlose Tosen tausendfältiger Stimmen auf ihn ein, Bilder überfluteten Bilder. Die ganze weite Welt drohte sich zu öffnen und ihn in einem Abgrund unaufhörlicher Klagen zu verschlingen. Gabrielle. Der donnernde Tumult starb allmählich ab. Er erhaschte einen Schmerzensschimmer von einem sterblichen Passanten. Und in einem Hochhaus auf dem Hügel saß eine sterbende Frau reglos am Fenster und träumte von Kindheitszwist. Verhaltene Ruhe dann, und er sah, was er sehen wollte: Gabrielle. Sie hielt inne, hatte seine Stimme gehört.
Sie merkte, daß sie beobachtet wurde. Eine große, blonde Frau, das Haar in einem einzigen Zopf auf den Rücken fallend, auf einer der verlassenen Straßen im Zentrum, nicht weit von ihm. Sie trug eine Khakijacke, eine Hose und einen verschlissenen braunen Pullover. Und ein Hut, seinem eigenen Hut nicht unähnlich, überdeckte ihre Augen; der hochgeschlagene Kragen gab nur wenig von ihrem Gesicht frei.
Jetzt verschloß sie ihre Seele, umgab sich mit einem unsichtbaren Wall. Das Bild verschwand.
Ja, sie war hier, wartete auf ihren Sohn Lestat. Warum hatte er sich je um sie geängstigt - sie, die nichts fürchtete, sie, die nur die Angst um ihren Sohn kannte.
Gut. Er war zufrieden. Auch Lestat würde zufrieden sein.
Aber was war mit den anderen? Louis, der Sanfte mit den schwarzen Haaren und den grünen Augen, der beim Gehen laut auftrat, sich in dunklen Straßen sogar ein Liedchen pfiff, so daß ihn die Sterblichen nicht überhören konnten. Louis, wo bist du?
Fast im selben Moment sah er Louis einen leeren Salon betreten. Er war gerade aus dem Keller emporgestiegen, wo er tagsüber in einem versteckten Gewölbe geschlafen hatte. Er hatte keine Ahnung, daß er beobachtet wurde. Er durchmaß den staubbedeckten Raum und blickte dann durch das verschmutzte Fenster auf den Verkehrsstrom. Er war noch immer derselbe elegante und sinnenfrohe Typ, der mit seinem Gespräch mit dem Vampir einen richtigen kleinen Aufruhr verursacht hatte. Jetzt wartete er allerdings auf Lestat. Böse Träume hatten ihn gerade heimgesucht; er war um Lestat besorgt und voll alter und ungewohnter Sehnsucht. Widerstrebend ließ er das Bild fahren. Diesen Louis mochte er wirklich gern, was nicht ganz einsichtig war, da Louis eine zarte, kultivierte Seele hatte und nichts von den dämonischen Kräften Gabrielles oder ihres teuflischen Sohns besaß.
Aber Louis würde ebensolange wie sie überleben können, da war er sich ganz sicher. Schon seltsam, die unterschiedlichen Arten des Mutes, die ein Oberdauern gewährleisteten. Vielleicht hatte es etwas mit der Fähigkeit, die Dinge hinzunehmen, zu tun. Aber wie erklärte man sich dann Lestat, der, geschunden und am Boden zerstört, sich immer wieder hochrappelte? Lestat, der nie etwas hingenommen hatte?
Sie hatten sich noch nicht gefunden, Gabrielle und Louis. Aber das machte nichts. Was sollte er tun? Sie zusammenbringen? Allein der Gedanke… Außerdem würde Lestat dafür bald genug sorgen.
Aber jetzt lächelte er wieder. »Lestat, du bist die vermaledeiteste Kreatur!
Ja, ein Flegel von einem Prinzen.« Ganz langsam ließ er wieder jedes Detail von Lestats Gesicht und Gestalt vor sich erstehen.
Die eisblauen Augen, die sich beim Lachen verfinsterten; das großherzige Lächeln; die Art, wie er trotzig die Augenbrauen zusammenzog; das plötzliche Auflodern seiner Lebensfreude und seines blasphemischen Humors. Selbst die katzenartige Geschmeidigkeit seines Körpers hatte er klar vor Augen.
Die Wahrheit war, daß er selbst nicht wußte, was er von dem
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