Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
die übernatürlichen Gaben noch nicht genug. Sein extravagantes Äußeres paßte schlecht zu seinem eigentlichen Wesen - er war ein machtvoller Vampir, der es mit einigem Glück auf ein Jahrtausend würde bringen können.
Wieder ergriff er das Wort: »Was hältst du von dem Vampir Lestat und der Erklärung?«
»Ich bitte um Entschuldigung. Ich breche gerade auf.«
»Aber dir ist doch bekannt, was Lestat angerichtet hat«, beharrte der Junge und verstellte ihm den Weg. Das war allerdings kein sehr gutes Benehmen.
Er sah sich diesen aufdringlichen Jüngling genauer an. Sollte er etwas machen, das ihn in Rage brächte? Etwas, worüber sie sich jahrhundertelang das Maul zerreißen könnten? Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Doch nein. Bald würde es genug Aufregung geben, dank seines geliebten Lestat.
»Ich darf dir einen kleinen Rat geben«, antwortete er ruhig. »Ihr könnt den Vampir Lestat nicht zerstören; niemand kann das. Aber warum das so ist, weiß ich auch nicht.« Der Junge fühlte sich überrumpelt und ein wenig beleidigt.
»Aber laß mich dir nun eine Frage stellen«, fuhr der Fremde fort. »Warum dieses Theater um den Vampir Lestat? Warum interessiert ihr euch nicht viel mehr für das, was er erzählt? Habt ihr Neulinge gar nicht den Wunsch, Marius zu suchen, den Bewacher JENER, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN? Um mit eigenen Augen Die Mutter und Den Vater zu sehen?«
Der Junge war verwirrt. Ihm fiel keine kluge Antwort ein. Aber die wahre Antwort lag in seiner Seele offen - in den Seelen aller, die zuhörten und zu ihnen hinsahen. JENE, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN mochten existieren oder auch nicht; und Marius hatte es vielleicht auch nie gegeben. Aber der Vampir Lestat war eine Tatsache, und er war ein abgefeimter Gierlappen, der das geheime Wohlergehen all seiner Artgenossen aufs Spiel setzte, nur um von den Sterblichen geliebt und gesehen zu werden.
Fast hätte der Fremde dem Jungen geradewegs ins Gesicht gelacht. Lestat hatte wirklich den Nerv dieser glaubenslosen Zeiten getroffen, das mußte man ihm lassen. Stimmt, er hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen und Geheimnisse verraten, aber deswegen hatte er nichts und niemanden hintergangen.
»Gib auf den Vampir Lestat acht«, sagte er lächelnd. »Wahrhaft Unsterbliche gibt es hienieden nur sehr wenige. Vielleicht ist er einer von ihnen.«
Dann hob er den Jungen hoch und räumte ihn aus dem Weg, Und er ging durch die Tür in die eigentliche Kneipe.
In dem vorderen Raum, der luxuriös mit schwarzen Samtvorhängen und glänzenden Messingleuchtern ausgestattet war, drängten sich lärmende Sterbliche. Filmvampire blickten aus vergoldeten Rahmen an den satinbespannten Wänden. Eine Orgel untermalte mit der leidenschaftlichen Toccata und Fuge von Bach das Geplapper und betrunkene Gelächter der Gäste. Er liebte den Anblick solch überschäumender Lebensfreude. Er liebte sogar den Bier- und Wein- und Zigarettengeruch. Und als er sich den Weg zum Ausgang bahnte, liebte er es, im Gedränge dieser wohlriechenden Menschen zu sein. Er schätzte den Umstand, daß die Lebenden nicht die geringste Notiz von ihm nahmen.
Schließlich die feuchte Luft, das abendliche Gewühl auf der Castro Street. Der Himmel glänzte wie poliertes Silber. Männer und Frauen hasteten die Gehsteige entlang, suchten dem schrägen Nieselregen zu entkommen, nur um dann an den Ecken auf das Umspringen der Verkehrsampeln zu warten.
Aus den Lautsprechern des Schallplattenladens auf der anderen Straßenseite plärrte Lestats Stimme, übertönte den vorbeifahrenden Bus, das Zischen der Absätze auf dem nassen Asphalt:
In meinen Träumen halt ich sie umschlungen,
Engel, Geliebte, Mutter.
Und in meinen Träumen küsse ich ihre Lippen,
Mätresse, Muse, Tochter.
Sie schenkte mir das Leben,
Ich schenkte ihr den Tod,
Meine schöne Marquise.
Und auf der Straße des Teufels wandelten wir,
Wie zwei Waisenkinder Hand in Hand.
Und hört sie meine Gesänge heute nacht
Von Königen und Königinnen und von alter Weisheit?
Von Leid und gebrochenem Schwur?
Oder erklimmt sie ferne Pfade,
Wo Wort und Lied sie nicht erreichen?
Komm zurück zu mir, meine Gabrielle,
Meine schöne Marquise.
Das Schloß verfallen auf dem Hügel,
Das Dorf verloren unterm Schnee,
Doch mein bist Du in Ewigkeit.
War sie schon hier, seine Mutter?
Die Stimme erstarb in einem sanften Wirbel instrumentaler Klänge, um schließlich vollends im Straßenlärm unterzugehen. Er trat in
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