Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Gott - zweigeteilt! Die Engel - zweigeteilt!
Ich weiß nicht, wie lange die anderen Engel mich zurückhalten konnten, doch schließlich mußten sie aufgeben, und ich stieg zum Himmel empor. Gedanken, Zweifel und Vermutungen erregten mich. Ich wußte, was Zorn war. Die Schreie leidender Säugetiere, das Kreischen und Brüllen der sich bekriegenden affengleichen Wesen hatten mich Zorn gelehrt. Verwesung und Tod hatten mich Furcht gelehrt. In der Tat hatte mich die gesamte göttliche Schöpfung alles gelehrt, was ich nun benötigte, um in rasender Eile vor ihn hinzutreten und zu fragen: ›Wolltest Du das? Dein eigenes Bild zweigeteilt, in männlich und weiblich! Ein Lebensfunke, der so hoch aufflammt, wenn einer von ihnen stirbt, Mann oder Frau! Solch eine Groteske, solch unmögliche Teilung, solch Monstrosität! War das Dein Plan?‹
Ich geriet außer mir. Ich betrachtete das als Katastrophe! Wütend gestikulierend schrie ich Gott an, er möge mich zur Vernunft bringen, möge mir vergeben. Doch von Gott kam nichts. Gar nichts. Kein Wort. Keine Strafe. Kein Urteil.
Ich war von Engeln umringt, die alle gespannt beobachteten und abwarteten. Von Gott dem Allmächtigen kam keine Reaktion, nur das überaus ruhevolle Licht entströmte ihm. Ich weinte. Und während ich weinte und sie mir dabei zusahen, bemerkte ich, daß ich nicht der einzige zu sein schien, der Tränen vergoß.
Wer war denn noch hier? Ich drehte mich um und schaute sie an:
Ich sah all die Engelschöre - Wächter, Cherubim, Seraphim, Ophanim, alle. Ihre Gesichter waren verzückt und geheimnisvoll, und doch vernahm ich dieses Weinen!
›Woher kommt dieses Weinen?‹ rief ich.
Und dann wußte ich es. Und auch die ändern wußten es. Wir strömten zusammen, mit gefalteten Schwingen und gebeugten Köpfen, und lauschten, und wir hörten die Stimmen jener unsichtbaren Geister, jener unsichtbaren Individuen von der Erde aufsteigen; sie waren es - diese nichtstofflichen Wesen -, die da weinten! Und ihr Weinen drang bis zum Himmel, während das Licht Gottes in ewiger Dauer und ohne Unterschied uns alle umhüllte.
›So kommt nun und seid Zeugen‹, forderte Raphael die Engel auf. ›Kommt und schaut, wie es unser Auftrag ist.‹
»Ja, ich muß einfach sehen, was das ist!‹ sagte ich, und ich begab mich hinab in die Luftschicht der Erde, und die anderen taten es mir gleich, so daß diese winzigen jammernden, weinenden Wesen, die wir nicht einmal sehen konnten, in einem Wirbel dahingetrieben wurden.
Und dann drang menschliches Wehklagen an unsere Ohren. Menschliches Weinen mischte sich mit dem der Unsichtbaren!
Gemeinsam näherten wir uns, dicht gedrängt umringten wir unsichtbar ein kleines Lager der glatthäutigen, schönen Menschenwesen. In ihrer Mitte lag ein sterbender junger Mann, der sich im Todeskampf auf einem Lager wand, das sie für ihn aus Gras und Blumen hergerichtet hatten. Der Biß eines Insekts hatte bei ihm ein todbringendes Fieber hervorgerufen; das war Teil des Kreislaufs, hätte Gott wohl gesagt, wenn wir gefragt hätten.
Doch das Wehklagen der Unsichtbaren schwebte über diesem Todgeweihten. Und die Klagen der Menschenwesen erhoben sich eindringlicher, als ich es ertragen konnte.
Wieder weinte ich.
›Sei still, lausche‹, sprach der geduldige Michael.
Er bedeutete uns, die Blicke über den kleinen Lagerplatz hinaus auf den Hintergrund zu richten; und dort in der klaren Luft sahen wir die Geisterstimmen weinend versammelt!
Zum ersten Mal erblickten wir diese Geisterwesen mit unseren eigenen Augen! Wir sahen, wie sie sich zusammendrängten und wieder zerstreuten, umherschweiften, wieder herankamen und dann zurückschreckten. Jedes von ihnen hatte den vagen Umriß eines menschlichen Wesens behalten. Schwach, verwirrt, verloren, ihrer selbst unsicher, trieben sie inmitten der Atmosphäre. Jetzt breiteten sie ihre Arme aus und reckten sie dem Mann entgegen, der sterbend auf dem Totenbett lag. Und dann starb er wirklich.«
Memnoch sah mich an, als sei es an mir, die Geschichte zu Ende zu erzählen.
»Und ein Geist fuhr aus dem sterbenden Mann«, sagte ich. »Der Lebensfunke flackerte auf, doch er verlosch nicht, sondern er wurde zu einem unsichtbaren Geist wie all die anderen. Der Geist des Mannes, geformt wie der Mann selbst, stieg auf und schloß sich den Geistern an, die gekommen waren, um ihn mit sich zu nehmen.«
»Ja!« Er seufzte abgrundtief und streckte die Arme aus. Er sog den Atem ein, als wolle er aufbrüllen. Dann wandte
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