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Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Titel: Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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verborgen blieb, woraus es auch bestand. Du würdest Jahrtausende brauchen, um den Aufbau und die Funktionen eines Nitrogenmoleküls zu verstehen, aber wir konnten es! Doch dies hier verstanden wir nicht. Oder besser gesagt, wir waren nicht in der Lage, es als das zu erkennen, was es war.«
    »Ja, ich verstehe, was du meinst.«
    »Wir lauschten. Wir versuchten es zu berühren. Dabei stellten wir fest, daß es körperlos und unsichtbar war, aber daß Beständigkeit und Individualität zu seinen Eigenschaften gehörte, und tatsächlich waren das, was wir wahrnahmen, sogar Unmengen von Individuen. Und sie weinten; ganz allmählich konnten wir diesen Ton mit unseren eigenen geistigen Ohren heraushören.«
    Er unterbrach sich und fragte: »Begreifst du, welche Unterscheidung ich treffe?«
    »Es waren geistige Individuen«, sagte ich.
    »Und während wir noch überlegten, während wir singend die Arme ausbreiteten und ihnen Trost zu spenden versuchten, wobei wir zugleich mit gewandten Schritten unsichtbar die irdische Materie durchmaßen, tat sich uns etwas Bedeutendes kund, das uns schockartig aus unseren Beobachtungen aufschreckte. Hier, vor unseren eigenen Augen, erstand sie, die Zwölfte Offenbarung der Evolution! Sie traf uns wie das Licht des Himmels, sie ließ uns den Jammer der Unsichtbaren vergessen! Sie erschütterte uns zutiefst. Sie verwandelte unsere Lieder in Gelächter und Wehklagen.
    Die Zwölfte Offenbarung der Evolution bestand darin, daß der weibliche Teil der menschlichen Rasse ein Äußeres entwickelt hatte, das sich von dem der Männer ganz erheblich unterschied, und zwar in einem Maße, daß es mit keinem anderen Anthropoiden vergleichbar war! In unseren Augen schienen die weiblichen Wesen anmutig und verführerisch, ihre Gesichter waren nicht mehr behaart, ihre Glieder waren geschmeidig; ihre Verhaltensweise ging über den puren Überlebenskampf hinaus; und sie waren schön, wie Blumen schön sind oder die Schwingen eines Vogels! Aus den Paarungen der stark behaarten Affen war ein zarthäutiges, weibliches Wesen mit strahlendem Gesicht erstanden. Und obwohl wir keine Brüste hatten und sie keine Schwingen, sahen sie aus wie wir!!!«
    Stumm starrten wir einander an.
    Nicht eine Sekunde mußte ich nachdenken. Ich begriff sofort. Ich wußte es. Ich sah ihn an, sah sein wunderschönes Antlitz, sein fließendes Haar, seine geschmeidigen Gliedmaßen und seine sanfte Miene, und ich wußte, daß er natürlich recht hatte. Auch ohne Evolutionslehre studiert zu haben, wurde mir klar, daß mit der voranschreitenden Entwicklung der Spezies ein solcher Zeitpunkt einfach hatte kommen müssen; und wenn je ein Geschöpf das Weibliche verkörperte, dann war er es. Er war wie die marmornen Engel, wie die Statuen Michelangelos, sein Körperbau spiegelte das absolute Gleichmaß und die Harmonie des Weiblichen wider.
    Er war aufgewühlt, er schien im Begriff, die Hände zu ringen. Er sah mich durchdringend an, als wolle er in mich hinein-, durch mich hindurchsehen.
    »Und in kürzester Zeit«, führ er fort, »zeigte sich die Dreizehnte Offenbarung der Evolution. Die männlichen Wesen vermählten sich mit den hübschesten der weiblichen, mit denen, die besonders schlanke Glieder, besonders weiche Haut, besonders sanfte Stimmen hatten. Und aus diesen Verbindungen entstanden Männer, die nicht weniger schön waren als die Frauen. Und bald gab es Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe, mit rotem und blondem, schwarzem oder fast weißem Haar oder mit braunen Locken, auch unterschiedliche Augenfarben traten auf Grau, Braun, Grün oder Blau. Vorbei war es mit der überhängenden Stirn, dem mit Haaren zugewachsenen Gesicht, dem affenähnlichen Ausdruck; auch der Mann strahlte in engelsgleicher Schönheit, genau wie seine weibliche Gefährtin.«
    Ich schwieg.
    Er wandte sich von mir ab, aber das war nicht kränkend gemeint. Es schien, als gönne er sich eine Pause, eine kurze Erholung zur Erneuerung seiner Kräfte. Ich ertappte mich dabei, wie ich die hochgewölbten, zusammengelegten Schwingen anstarrte, deren untere Spitzen knapp über dem Boden endeten, jede einzelne Feder schillerte leicht. Er drehte sich um und sah mich an, und sein anmutiges Antlitz versetzte mir einen Schock.
    »Da standen sie, Mann und Frau, Er hatte sie erschaffen, und abgesehen davon. Lestat, abgesehen davon, daß das eine männlich und das andere weiblich war, waren sie nach dem Bilde Gottes und Seiner Engel erschaffen! Dazu war es gekommen! Dazu!

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