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Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Titel: Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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er den Blick durch die riesigen Bäume hinauf zum Himmel.
    Ich stand wie gelähmt.
    Der dichte Wald um uns herum ächzte. Ich spürte, daß Memnoch bebte, spürte den Schrei, der in ihm lauerte und, einem gräßlichen Trompetenton gleich, hervorzubrechen drohte, der jedoch einfach erstarb, als Memnoch den Kopf senkte.
    Der Wald hatte sich inzwischen verändert. Jetzt war es ein Wald, wie wir ihn heute kennen. Unsere Eichen, unsere dämmrigen Bäume und auch das Moos und die Wildblumen kannte ich und die Vögel und die kleinen Nager, die zwischen den Schatten einherhuschten.
    Ich wartete ab.
    »Die Luft war voll mit diesen Geistern«, fuhr er fort, »denn nun, da wir sie einmal entdeckt, ihre unermüdlichen Stimmen vernommen hatten, ihre blassen Umrisse erspäht hatten, konnten wir sie nie wieder übersehen, und sie umgaben die Erde wie ein Kranz! Die Geister der Toten, Lestat! Die Seelen der verstorbenen Menschen.«
    »Seelen, Memnoch?«
    »Seelen.«
    »Seelen waren aus der Materie erstanden?«
    »Ja. Nach seinem Bilde. Seelen, der innerste Kern des Menschen, unsichtbare Individuen, Seelen!« Er seufzte. »Komm mit.« Er fuhr mit dem Handrücken über sein Gesicht. Als er nach meiner Hand griff, spürte ich zum ersten Mal ganz deutlich seine Schwingen, die meinen Körper streiften, und ein Schauer durchfuhr mich, der Furcht ähnlich und doch wieder auch nicht.
    »Seelen waren aus diesen Menschenwesen entwichen«, betonte er. »Heil und lebendig waren sie und schwebten um die Körper jener Menschen, deren Stamm sie angehört hatten.
    Sie konnten weder uns noch den Himmel sehen. Sie konnten nur ihre Nachkommenschaft sehen, diejenigen, die sie begraben hatten, die sie im Leben geliebt und die den roten Ocker über ihre toten Körper gestreut hatten, bevor sie sie sorgfältig, die Gesichter nach Osten gewandt, mit ihren Besitztümern in ihren Gräbern bestattet hatten!«
    »Und die Menschen, die daran glaubten«, fragte ich, »die ihre Vorfahren verehrten - fühlten die deren Gegenwart? Erspürten sie das? Vermuteten sie, daß ihre Vorfahren sie noch in geistiger Form umgaben?«
    »Ja«, antwortete er.
    Ich war so mit dem Gehörten beschäftigt, ich konnte nichts sagen. Und meine Sinne wurden gleichsam überschwemmt vom Geruch des Waldes, von seinen kräftigen Farben, von den unendlich vielfältigen Abstufungen in Braun und Gold und tiefem Rot. Ich sah zum Himmel auf, wo das blendende Licht sich grau und trübe brach und dennoch grandios wirkte.
    Aber trotzdem dachte ich nur an eines: an den Wirbelsturm und an die Seelen, die uns dort umgeben hatten, als sei die Luft zwischen Himmel und Erde angefüllt mit ihnen. Seelen, die immer und ewig dahintrieben. Wohin wendet man sich in solcher Dunkelheit? Wonach sucht man? Welche Erfahrungen kann man machen?
    Lachte Memnoch? Nein, ein kurzer, betrübter Ton, sehr persönlich und voller Schmerz. Vielleicht sang er leise, als sei die Melodie eine natürliche Folge seiner Gedanken. Sie entströmte seinem Denken, wie Duft von Blumen aufsteigt: Gesang, die Äußerungsform der Engel.
    Ich merkte, daß er litt, aber ich konnte es nicht mehr aushalten. »Memnoch, wußte Gott das?« fragte ich. »Wußte Gott, daß die Männer und Frauen einen geistigen Wesenskern entwickelt hatten? Memnoch, wußte Er von ihren Seelen?«
    Er gab keine Antwort. Ich vernahm nur diesen gedämpften Klang, seinen Gesang. Er blickte wieder zum Himmel auf, und nun wurde sein Gesang deutlicher, wurde zu einem dunklen demütigen Lobgesang voller Ausdruckskraft und Schmerz, der unserer gemessenen, klar aufgebauten Musik fremd war.
    Konnte die Schönheit dieses Waldes mit der des Himmels, die ich gesehen hatte, konkurrieren? Das konnte man unmöglich beantworten. Aber ganz sicher konnte ich, ohne zu lügen, für mich sagen, daß der Vergleich mit dem Himmel diese Schönheit nicht schmälerte. Dieser Wilde Garten, möglicherweise der Garten Eden, dieser uralte Ort war voller Wunder in sich selbst und seiner eigenen Begrenztheit. Plötzlich konnte ich seinen Anblick nicht mehr ertragen, konnte den Anblick der schlanken, zu Boden schwebenden Blätter und meine Liebe zu ihm nicht mehr ertragen, wenn meine Frage unbeantwortet blieb. Nichts in meinem Leben schien mir plötzlich wichtiger.
    »Wußte Gott von den Seelen, Memnoch?« wiederholte ich. »Wüßte Er es?«
    Er wandte sich mir zu. »Wie konnte Er es nicht wissen, Lestat! Wie könnte Er es nicht gewußt haben! Und wer, glaubst du, flog hinauf in die höchsten

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