Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Herr, sie wollen alles über Dich erfahren. Und über sich selbst. Sie sind wissend, und sie streben nach noch mehr Wissen!‹
Dies war der wichtigste Punkt meines Plädoyers, und ich wußte es. Doch wie bisher kam von Gott weder eine Antwort noch eine Unterbrechung.
›Dieser sich selbst bewußte Mensch, der eine Vorstellung von Zeit hat, der mittlerweile ein Gehirn mit einem solchen Fassungsvermögen entwickelt hat, daß wir Wächter kaum mit seinen Lernerfolgen Schritt zu halten vermögen, ist in meinen Augen die höchste Vollendung Deiner Schöpfung. Doch das Leid, die Qualen, die Wißbegier - dieses Wehklagen schien mir für die Ohren der Engel bestimmt und für Gottes Ohren, wenn ich es wagen darf, das zu sagen.
Herr, ich plädiere nun für folgendes: Können diese Seelen nicht, entweder im Fleische oder in Scheol, an unserem Licht teilhaben? Kann man ihnen nicht dieses Licht geben, wie man Tieren Wasser gibt, wenn sie dürsten? Und wenn diese Seelen erst einmal Dein göttliches Vertrauen erlangt haben, werden sie dann nicht auch würdig sein, einen kleinen Platz an diesem Hofe, der doch unendlich ist, einzunehmen?‹
Die Stille schien traumgleich und ewiglich wie die Zeit vor Anbeginn der Zeit.
›Könnte man es nicht versuchen, Herr? Denn ohne diesen Versuch, was wird dann das Schicksal dieser unsichtbar überlebenden Seelen sein? Werden sie nicht immer mehr Kraft erlangen und sich so tief in die irdischen Belange verstricken, daß ihnen kein Raum bleibt, dem Wesen der Dinge auf den Grund zu gehen, werden nicht verwerfliche Ideen die Oberhand gewinnen, die nur teilweise auf Tatsachen beruhen, dafür aber auf instinktiver Furcht?‹
Jetzt verzichtete ich auf eine höfliche Pause und ging gleich weiter auf mein Ziel los.
›Herr. Als ich mich in diesen Leib begab, als ich mich der Frau zuwandte, geschah das, weil sie schön war, das ja, und weil sie uns ähnlich sah und weil sie Freuden des Fleisches bot, die uns fremd sind. Ich gebe zu, daß diese Freuden unsäglich gering sind im Vergleich zu Deiner erhabenen Herrlichkeit, doch Herr, ich sage Dir, als wir beisammenlagen, sie und ich, und wir diese Freuden gemeinsam genossen, da schoß diese unbedeutende Flamme hochauf mit einem Klang, nicht unähnlich den Gesängen der Allerhöchsten!
Unserer beider Herzschlag stockte, Herr; wir erfuhren im Fleische die Ewigkeit; der Mann in mir erkannte, daß das Weib es ebenso empfand. Uns widerfuhr etwas, das alle irdischen Erwartungen überstieg, etwas rein Göttliches.‹
Ich verstummte. Was mehr konnte ich sagen? Das hieße nur, mein Plädoyer mit Beispielen auszuschmücken für jemanden, der ohnehin alles weiß. Ich verschränkte die Arme und senkte den Blick ehrerbietig und nachdenklich, während ich den Seelen in Scheol lauschte, deren leises, weit entferntes Flehen mich eine Sekunde lang ablenkte, mich unmittelbar dieser himmlischen Gegenwart entzog und mir bewußt machte, daß sie nach mir riefen, um mich an meine Versprechen zu erinnern, und auf meine Rückkehr hofften.
›Herr, Gott, vergib mir, sagte ich. ›Deine Wunder lockten mich in diese Falle. Und ich müßte mich irren, wenn das nicht Dein Plan war.‹
Erneutes hallendes Schweigen in einer samtigen Leere, einer Leere, unvorstellbar für Erdenmenschen. Ich hielt stand, denn ich konnte nicht bereuen, was ich getan hatte, und tief in meinem Herzem wußte ich, jedes meiner Worte war die Wahrheit und nicht von Furcht verzerrt. Sehr deutlich war mir klar: Was immer der Herr täte und wenn Er mich aus dem Himmel würfe, ich hatte es wirklich verdient. Ich, Sein Engel, von Ihm geschaffen, Ihm zu Gehorsam verpflichtet -und von Ihm vernichtet, wenn Er es wünschte. Wieder hörte ich die Schreie aus Scheol, und wie ein Sterblicher fragte ich mich, ob er mich nicht schon bald dorthin befördern oder mir vielleicht etwas weitaus Furchterregenderes antun würde, denn die Natur bot unzählige Möglichkeiten qualvoll vernichtender Katastrophen, und Gott konnte mir, seinem Engel, Leid zufügen nach Seinem Willen, das wußte ich.
›Ich habe Vertrauen in Dich, Herr.‹ Ich sprach plötzlich aus, was mir gerade durch den Kopf ging. ›Andernfalls hätte ich mich wie die übrigen Wächter vor Dir niedergeworfen. Und damit will ich nicht sagen, daß sie Dir nicht vertrauen, sondern nur, daß ich daran glaube, daß Du mich Güte lehren willst und Du nicht zulassen wirst, daß diese Seelen weinend in Unwissenheit dahindämmern. Du wirst nicht zulassen, daß diese
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