Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
man ihre Aufmerksamkeit von der Erde ablenken, und so begann ich sie auszufragen, wobei ich immer darauf bedacht sein mußte, die Wahrheit herauszufinden, ohne plump zu sein.
Ich habe wohl mit Millionen von ihnen gesprochen, während ich Scheol durchstreifte, wobei es immer am schwierigsten war, die einzelne Seele dazu zu bewegen, von der Erde als dem Mittelpunkt ihrer Gedanken abzulassen oder von irgendwelchen Phantastereien über ihre verlorene Existenz. Ich mußte sie in ihrer Kontemplation stören, in der ihnen Konzentration völlig fremd war, und ihnen so eine ungeheure, kaum zu ertragende Anstrengung abfordern.
Die weisesten Seelen - und damit auch die liebevollsten - wollten sich mit meinen Fragen gar nicht herumplagen; erst nach und nach ging ihnen auf, daß ich kein Sterblicher war, sondern ein Wesen aus ganz andersartigem Stoff und daß meine Fragen Bezug nahmen auf einen Ort weit jenseits alles Irdischen. Das war ein Dilemma. Sie waren schon so lange in Scheol, daß sie nicht mehr über das Warum des Lebens oder der Schöpfung spekulierten. Schon längst fluchten sie nicht mehr auf einen unbekannten Gott, noch suchten sie ihn. Und als ich ihnen mit meinen Fragen kam, glaubten sie, ich stünde auf einer Stufe mit den neuentstandenen Seelen mit ihren Träumen von Strafe und gerechtem Lohn, was doch beides nicht zu erwarten war.
In einem fortwährenden Traumzustand gefangen, blickten diese weisen Seelen ohne Zorn auf ihr vergangenes Leben zurück, nur darauf bedacht, wie schon erwähnt, die Bitten der Menschen zu erhören. Sie wachten über ihre Nachkommen, ihre Verwandten, ihre Nation und über die, die ihre Aufmerksamkeit durch auffällig zur Schau gestellte Religiosität erregten. Voller Trauer sahen sie das Leid der Menschen und wünschten, sie könnten helfen, versuchten es auch durch ihre Gedanken, so gut es ging.
Nur ganz selten bemühten sich diese sehr starken und geduldigen Seelen darum, wieder ins Fleisch zurückzukehren. Einige hatten es gewagt, sie waren hinabgegangen und wiedergeboren worden, aber ihre spätere Analyse des Geschehens hatte ihnen gezeigt, daß sie sich in der jeweiligen Inkarnation nicht an die vorhergehende hatten erinnern können. Worin also lag dann der Sinn einer Wiedergeburt? Da war es doch besser, hier zu verweilen, in der Ewigkeit, die sie kannten, und die Schönheit der Schöpfung zu betrachten, die ihnen als ein großes Wunder erschien - sie empfanden also ganz wie wir.
Nun, aus diesen Gesprächen mit den Gestorbenen, aus diesen endlosen, gedankenschweren Gesprächen erarbeitete ich meine Kriterien.
Zuerst einmal, um des Himmels würdig zu sein, um also eine wie auch immer geartete Chance bei Gott zu haben, mußte die Seele ein Mindestmaß an Verständnis für Leben und Tod haben. Das fand ich bei vielen Seelen. Zusätzlich zu diesem Verständnis mußte sie Gottes Werk in seiner ganzen Schönheit zu würdigen wissen die Harmonie der Schöpfung aus der Sicht Gottes, diese Vorstellung von einer Natur, die Überleben und Zeugen, Fortentwicklung und Wachstum in endlos sich fortsetzenden Spiralbewegungen bedeutete.
Auch das taten viele Seelen. Doch viele wiederum, die das Leben als wunderschön empfanden, beklagten den Tod als traurig, endgültig und schrecklich, und hätten sie die Wahl gehabt, hätten sie gar nicht erst geboren werden wollen!
Ich wußte nicht, wie ich mich angesichts dieser weitverbreiteten Überzeugung verhalten sollte: Warum schuf Er uns, wer immer Er auch ist, wenn wir hier in diesem Zustand für immer verharren sollen, der Natur entrissen und nie wieder Teil von ihr, es sei denn, wir gleiten wieder hinab und erleiden all die Qualen aufs neue für einen kurzen Augenblick der Herrlichkeit, die wir dann genausowenig schätzen können wie vorher, denn unsere Weisheit können wir nicht mitnehmen, wenn wir wiedergeboren werden!
Und tatsächlich, wenn sie an diesem Punkt angelangt waren, hatten viele Seelen es aufgegeben, sich weiterzuentwickeln oder zu verändern. Ihre Anteilnahme und ihr Erbarmen mit den Lebenden war groß, sowohl Kummer als auch Freude konnten sie sich noch sehr gut vorstellen. Sie strebten eine friedvolle Existenz an, und in der Tat schien Frieden das zu sein, was sie am ehesten zu erreichen vermochten. Das ständige Bemühen, auf Gebete zu reagieren, machte es natürlich schwierig, Frieden zu finden, doch schien mir als Engel dieser Zustand äußerst verlockend. Und so blieb ich lange Zeit in der Gesellschaft dieser Seelen.
Ach,
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