Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
wenn ich es ihnen nur richtig erklären könnte, dachte ich, wenn ich sie lehren könnte, vielleicht könnte ich sie bekehren, sie vorbereiten, sie für das Himmlische empfänglich machen. Doch so, in diesem Zustand, waren sie noch nicht soweit, und ich wußte nicht, ob sie meinen Worten überhaupt geglaubt hätten. Und was, wenn sie es glaubten, wenn ein jähes Verlangen nach dem Himmel über sie gekommen wäre, und Gott hätte sie dann nicht eingelassen?
Nein, ich mußte wirklich sehr vorsichtig zu Werke gehen. Ich konnte mich nicht auf einen Felsblock stellen und Weisheiten verkünden, wie ich es in meinem kurzen Erdendasein getan hatte. Wenn ich die Entwicklung auch nur einer dieser Seelen beeinflussen wollte, mußte es schon eine vernünftige Chance geben, daß die Seele mir zu Gottes Thron folgen könnte.
Verständnis für Leben und Tod? Nein, das war nicht genug. Den Tod akzeptieren? Auch das reichte nicht. Gleichgültigkeit gegenüber Leben und Tod, das war mit Sicherheit nicht das richtige. Stillverwirrtes Dahintreiben? Nein. Eine solche Seele hatte ihren Charakter verloren, sie ähnelte sowenig einem Engel wie der Regen, der auf die Erde niederfiel.
Schließlich aber kam ich in einen Bereich, der kleiner als die vorherigen war und mit nur einigen wenigen Seelen bevölkert. Ich meine natürlich vergleichsweise. Vergiß nicht, ich bin der Teufel und verbringe eine Menge Zeit in Himmel und Hölle. Wenn ich also sage ›wenige‹, dann benutze ich nur ein für deinen Verstand faßbares Bild. Sagen wir, nur zur näheren Erläuterung, einige tausend oder mehr. Aber ich meine durchaus eine große Anzahl.«
»Ich kann dir folgen.«
»Diese Seelen erstaunten mich nun besonders wegen ihrer Ausstrahlung, ihrer Gelassenheit und ihres umfassenden Wissens. Jede von ihnen besaß eine vollständige menschliche Gestalt, was bedeutete, daß sie ihre ursprüngliche, vielleicht auch ihre ideale Gestalt im Irrealen verwirklicht hatten. Sie glichen uns Engeln! Diese Männer, Frauen und Kinder trugen Gewänder, die ihnen offensichtlich während ihres Lebens lieb gewesen waren. Einige dieser Seelen waren ganz neu hier und nach ihrem Tode von tiefen Gedanken erfüllt und suchend hergekommen, vorbereitet auf ein Mysterium. Für andere Seelen war Scheol selbst der Ort des Lernens gewesen, in dem sie Jahrhunderte lang die Vorgänge dort beobachteten, so erschreckend diese auch waren, und das trotz der ständigen Furcht vor dem Persönlichkeitsverlust. Das entscheidende aber war: Alle diese anthropomorphen Seelen waren deutlich sichtbar - wenn sie auch, wie alle Geister, durchscheinend waren -, also für sich und andere wahrnehmbar.
Als ich mich unter sie mischte, wurde mir schnell klar, daß diese Seelen mich anders beurteilten als die übrigen Scheolbewohner zuvor. Sie standen in größerem Einklang mit der subtilen überirdischen Welt, da sie deren Bedingungen gänzlich akzeptiert hatten. Wenn es mein Wunsch war, so zu sein, wie ich war, wollten sie mich ruhig gewähren lassen, dachten sie, und sie begutachteten mich und meine Erscheinung sehr eingehend - wie gut es mir doch gelang, dieses hochgewachsene Wesen mit den Schwingen und den langen Haaren und diesen fließenden Gewändern darzustellen. Gleich vom ersten Moment meiner Ankunft an spürte ich Glückseligkeit und eine Bejahung der Dinge bei ihnen, keinerlei Abneigung schlug mir entgegen, dafür aber eine verwegene Neugier. Sie wußten, daß ich keine menschliche Seele war. Sie wußten es einfach, denn sie hatten eine Stufe erreicht, die ihnen diese Erkenntnis ermöglichte! Sie nahmen überhaupt in den Seelen, die ihnen vor Augen kamen, eine Menge wahr und eine Menge von der Welt dort unten.
Eine dieser Seelen hatte die Gestalt einer Frau - es war übrigens nicht etwa meine Lilia; die habe ich in keiner Gestalt je wiedergesehen. Doch es war eine Frau, die in ihren besten Jahren gestorben war, nachdem sie zahlreichen Kindern das Leben geschenkt hatte; einige dieser Kinder waren nun hier bei ihr, andere lebten noch. Diese Seele existierte in einer stillen Heiterkeit, die beinahe schon von ihr ausstrahlte. Das bedeutete, daß sie die Stufen des Überirdischen schon so weit erklommen hatte, daß sie kurz davorstand, ein Licht, ähnlich dem Gottes, zu erzeugen!
›Was läßt dich so anders sein?‹ fragte ich die Frau. ›Was ist es, was euch alle, die ihr an diesem Ort versammelt seid, so anders macht?‹
Mit erstaunlichem Scharfsinn entgegnete mir diese Frau, wer denn
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