Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
gab dort andere Gesetzmäßigkeiten. Oder vielleicht war es bloß ein Darüberhinauswachsen, die Fähigkeit, Farbschattierungen wahrnehmen zu können, die auf der Erde nicht sichtbar sind.
Die Wogen aus Gelächter, Gesängen, Gesprächen erreichten eine Lautstärke, die meine Sinne überwältigte; ich fühlte mich plötzlich wie geblendet davon, obwohl doch das Licht jedes kostbare Detail bloßlegte.
»Saphirgrün!« rief ich aus in dem Versuch, das kräftige Grünblau der großen Blätter zu beschreiben, die uns, sanft hin- und herwehend, umgaben. Memnoch lächelte und nickte wie zustimmend, wobei er wieder nach mir griff, um mich davon abzuhalten, den Himmel zu berühren in dem Versuch, die Großartigkeit dessen, was ich sah, festzuhalten.
»Aber ich kann doch nichts zerstören, wenn ich etwas anfasse?« Es schien mir unvorstellbar, daß irgend jemand irgend etwas hier zerstören könnte, von den Mauern aus Quarz und Kristall mit ihren ins Endlose ragenden Türmen und Dächern bis hin zu den lieblichen, zarten Ranken, die sich an den Ästen der von herrlichen Früchten und Blüten schweren Bäume emporwanden. »Nein, nein, nichts hier würde ich zerstören wollen!« sagte ich. Deutlich hörte ich meine eigene Stimme, obwohl die Stimmen all derer um mich herum sie zu übertönen schienen.
»Schau hin«, sagte Memnoch, »schau sie dir an. Schau nur!« Und dabei drehte er meinen Kopf, als wollte er mich zwingen, mich nicht an seiner Brust zu verbergen, sondern geradewegs diese Unmengen von Geschöpfen anzusehen. Und so nahm ich wahr, daß alle Wesen, die ich beobachtete, irgendwie zueinandergehörten, es waren Clans, die sich versammelten, Familien, Verwandte oder Freunde, Wesen, die ein grundsätzliches gemeinsames Wissen voneinander hatten, Geschöpfe, die die gleiche physische oder materielle Manifestation teilten! Und einen kurzen, mutigen Augenblick lang hatte ich die Erkenntnis, daß all diese Wesen, vom einen Ende dieses grenzenlosen Ortes bis zum ändern, miteinander in Kontakt standen, sich berührten, durch Händedruck oder mit den Fingerspitzen, an den Armen oder mit den Füßen. Daß tatsächlich ein Clan sich dem ändern einfügte, ein Stamm sich in zahllose Familien hinein verzweigte und Familien sich vereinten und Nationen bildeten und daß diese gesamte versammelte Menge wirklich eine wahrnehmbare, sichtbare, untereinander verbundene Struktur bildete. Jedermann wirkte auf den anderen ein, jeder war gleichzeitig eine einzelne Person und doch dem anderen verbunden!
Ich blinzelte, mir war schwindlig, ich brach fast zusammen. Memnoch stützte mich und flüsterte: »Sieh genau hin!«
Doch ich bedeckte meine Augen, denn ich wußte, wenn ich all diesen ineinander verschachtelten Verbindungen noch einen Blick gönnte, bräche ich wirklich zusammen! Ich würde vergehen in dem Gefühl meines völligen Alleinseins! Dabei war doch jedes, aber auch jedes der Wesen, das ich sah, für sich allein.
»Sie sind alle sie selbst!« schrie ich, immer noch die Hände vor meinen Augen. Noch deutlicher konnte ich jetzt die wilden, um mich herum aufbrandenden Gesänge hören, diese langen, kaskadenartigen Sequenzen all der vielen Stimmen. Und unterlegt waren sie mit so fließenden, sich überschneidenden Rhythmen, daß ich selbst zu singen begann. - Ich sang mit all den anderen! Ich stand ganz still, für einen Moment losgelöst von Memnoch, öffnete meine Augen und hörte meine Stimme aus mir hervorschallen und aufsteigen, als wolle sie geradewegs das Universum füllen.
Ich sang ohne Unterlaß; doch mein Lied war ebenso voller Sehnsucht und immenser Wißbegier und Melancholie wie voller Lobpreisung. Und tief in mir pochte das Gefühl, daß niemand, nicht einer von denen hier um mich herum, nicht geborgen war oder unzufrieden oder auch nur annähernd ein Gefühl der Leblosigkeit oder der Eintönigkeit empfand; und doch paßte ein Begriff wie »Wahn« oder »Besessenheit« nicht für diese permanente Bewegung der Gestalten und Gesichter.
Mein Lied war der einzige traurige Klang im Himmel, doch wurde diese Trauer sofort in Harmonie umgewandelt, in eine Art Psalm oder Choral, in eine Hymne aus Lobpreisungen, Dank und Wunder. Ich schrie laut auf. Ich glaube, ich schrie nur dies einzige Wort, »Gott«. Und das war kein Gebet, kein Eingeständnis und auch keine Bitte, sondern schlicht ein riesiger Aufschrei.
Wir standen unter einem Durchgang. Vor uns öffnete sich eine weite Landschaft, und plötzlich überkam mich das
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