Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
undeutliche Gefühl, daß hinter der nahen Balustrade die Welt lag.
Die Welt, die all die Jahrhunderte in sich trug, all die Geheimnisse der Vergangenheit offenbarte, wie ich sie noch nie hatte wahrnehmen können. Wenn ich nur das Geländer erreichte, könnte ich hinabspähen, und ich sähe den Garten Eden oder das antike Mesopotamien oder den Augenblick, in dem die römischen Legionen durch die Wälder meiner irdischen Heimat zogen. Ich sähe den Vesuv seine grausige, tödliche Asche emporstoßen und hinabspeien auf das antike, von Leben wimmelnde Pompeji.
All das dort unten zu sehen und endlich zu verstehen, allen Fragen ein Ende zu setzen, den Geruch, den Geschmack einer anderen Zeit…
Ich rannte auf die Balustrade zu, die sich jedoch immer weiter zu entfernen schien. Immer schneller stürzte ich darauf zu; doch sie schien mir auf unerklärliche Art mit jedem Schritt unerreichbarer, und mir wurde klar, daß diese Sicht der Erde für mich untrennbar verknüpft wäre mit Rauch und Feuer und Leid und daß das mein überfließendes Gefühl der Wonne, das ich empfand, gänzlich zerstören könnte. Und dennoch, ich mußte es einfach sehen. Ich war nicht tot. Ich brauchte nicht hier zu bleiben.
Memnoch griff nach mir. Aber ich war schneller.
Doch dann ergoß sich grellstes Licht aus einer unmittelbaren Quelle, unendlich heißer und blendender als das großartige Licht, das ohnehin schon vorurteilslos alles um uns herum verklärte. Dieses riesige, konzentrierte, magnetische Licht verstärkte sich immer weiter, bis die Welt dort unten, diese sich ausbreitende undeutliche Landkarte aus Rauch und Grauen und Leid weiß glühte und, im Verglühen begriffen, zu einer Abstraktion ihrer selbst wurde.
Memnoch riß mich zurück, wobei er mit seinen Armen meine Augen schützte. Ich spürte, daß er den Kopf gebeugt hielt und selbst seine Augen hinter meinem Körper verbarg.
Ich hörte ihn seufzen, oder war es ein Stöhnen? Ich wußte es nicht. Für eine Sekunde war das Universum von diesem Ton erfüllt;
all die Schreie, das Lachen, die Gesänge und etwas Trauererfülltes aus der Tiefe der Erde selbst - all diese Klänge, sie waren gefangen in Memnochs Seufzer.
Dann gaben seine kräftigen Arme nach und ließen mich los. Ich hob den Kopf, und inmitten der Lichtflut sah ich wieder die Balustrade, und an sie gelehnt stand eine einzelne Gestalt.
Eine hochgewachsene Gestalt, die, die Hände auf das Geländer gelegt, auf die Landschaft hinabblickte. Es schien ein Mann zu sein. Er drehte sich um, sah mich an und breitete die Arme aus, um mich willkommen zu heißen.
Sein Haar und seine Augen waren dunkel, brünett, sein Gesicht absolut symmetrisch und makellos, sein Blick durchdringend; und der Griff seiner Hand sehr fest. Ich schnappte nach Luft. Als seine Finger die meinen umschlossen, wurde ich mir meines Körpers, meiner Zerbrechlichkeit extrem bewußt. Ich war dem Tode nahe. In dem Augenblick hätte ich aufhören können zu atmen, hätte aufhören können, mich dem Rhythmus des Lebens hinzugeben, hätte einfach sterben können!
Das Wesen zog mich zu sich heran, Licht ging von ihm aus, das sich mit dem Licht ringsumher mischte, so daß sein Antlitz noch stärker leuchtete und noch deutlicher zu sehen war. Ich sah die Poren seiner dunkelgoldenen Haut, sah die feinen Linien seiner Lippen, den Schatten des rasierten Bartes.
Und dann sprach er zu mir, bittend, mit lauter, zu Herzen gehender Stimme, einer Stimme, die kräftig und männlich und vielleicht sogar jung klang.
»Würdest du je mein Gegner sein? Das würdest du nicht wollen, nicht wahr? Du nicht, Lestat, nein, du nicht!«
Mein Gott.
In absoluter Agonie wurde ich aus Seinem Griff, Seiner Gegenwart gerissen. Wieder umgab uns der Wirbelsturm. Ich schluchzte und hämmerte mit den Fäusten gegen Memnochs Brust. Kein Himmel mehr!
»Memnoch, laß mich los! Das war Gott, Gott!«
Memnoch verstärkte seinen Griff noch, kämpfte mit all seiner Kraft darum, meinen Widerstand zu brechen, mich nach unten zu tragen, mich zum Abstieg zu zwingen.
Wir fielen rasend schnell - wieder dieser entsetzliche Fall, der solche Furcht in mir auslöste, daß ich nicht fähig war, zu protestieren oder auch nur mich an Memnoch festzuhalten. Ich nahm nur wahr, wie in einem eilenden Strom die Seelen um uns herum auf- und abstiegen, wie die Dunkelheit über uns fiel, alles bedeckte, bis wir plötzlich durch feuchte Luft voller vertrauter, natürlicher Gerüche schwebten und dann sanft und
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