Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Dunkelheit gänzlich aus ihm herausgesogen zu werden schien. Sein Profil war jetzt hell, beinahe durchscheinend, wie auch seine formlose Kleidung. Und die Bocksbeine waren den Beinen eines hochgewachsenen Mannes gewichen. Kurz gesagt, die ganze schlammfarbene, rauchgleiche Wesenheit war verwandelt worden in etwas Kristallklares, Glänzendes, das sich jedoch geschmeidig und warm und lebendig anfühlte.
Aus Schriften und Visionen, Prophezeiungen und Dichtungen aufgeschnappte Worte kamen mir in den Sinn; doch es gab keine Zeit, sie abzuwägen oder zu analysieren.
Memnoch sprach zu mir, vielleicht war seine Stimme rein technisch gar nicht hörbar, und dennoch vernahm ich die vertraute, akzentfreie Sprache des Unauffälligen.
»Was du nun siehst, wird dich verblüffen und verwirren, denn es ist schwierig, den Himmel zu betreten, ohne sich ein wenig vorbereitet zu haben. Aber wenn ich ihn dir nicht sofort zeige, wirst du während unseres gesamten folgenden Gesprächs danach verlangen, deshalb führe ich dich jetzt direkt vor die Tore. Richte dich darauf ein, daß es nicht Gelächter ist, was du hörst. Es ist Frohlocken, Freude. Nur klingt es für dich wie Lachen, weil derart ekstatische Klänge physisch nur so aufgenommen werden können.«
Er hatte kaum die letzten Silben ausgesprochen, als wir uns auch schon in einer Parklandschaft befanden, auf einer Brücke über einem Wasserlauf! Sekundenlang wurden meinen Augen von Licht in einem solchen Ausmaß geblendet, daß ich sie schloß, und ich dachte, die Sonne hätte mich gefunden, um mich zu verbrennen, wie es mir gebührte: ein Vampir, in eine Fackel verwandelt und so auf ewig ausgelöscht.
Aber dieses Licht, das keine bestimmbare Quelle zu haben schien, war absolut durchdringend und dennoch sehr wohltuend. Ich öffnete die Augen wieder und sah, daß wir uns inmitten Hunderter anderer Wesen befanden, die auf der Brücke, an den Flußufern und überall waren, die sich begrüßten, umarmten, miteinander sprachen, weinten und aufschrien. Und wie schon zuvor waren ihre Umrisse unterschiedlich deutlich ausgeprägt. Ein Mann war von solcher Körperlichkeit, daß ich ihn genausogut überall auf der Straße hätte treffen können. Ein Wesen schien nur aus einem gigantischen Gesichtsausdruck zu bestehen, andere nur aus wirbelnden Lichtund Materieteilchen. Dann gab es noch gänzlich durchsichtige - und wieder andere schienen unsichtbar, aber dennoch war ich mir ihrer Anwesenheit bewußt! Man konnte ihre Zahl unmöglich schätzen.
Der Ort selbst war grenzenlos, und auf der Wasseroberfläche des Flusses glitzerten Lichtreflexe, das Gras war so grün, als sei es in seiner unmittelbaren Entstehung, seiner Geburt begriffen, alles erschien wie in einer bewegten Bildfolge!
Ich wandte mich Memnoch zu, damit ich ihn in seiner neuen, lichten Gestalt betrachten konnte. Er war nun das genaue Gegenteil des aus tiefster Dunkelheit geformten Engels, und doch hatte sein Antlitz mit den sanft zusammengezogenen Brauen die gleiche starke Ausdruckskraft wie das granitene Standbild. Betrachtet man die Engel und Teufel William Blakes, weiß man, was ich meine. Einen Ausdruck jenseits jeglicher Unschuld.
»Nun werden wir hineingehen«, sagte er.
Ich merkte, daß ich mich mit beiden Händen an ihn klammerte. »Willst du sagen, daß dieses hier noch nicht der Himmel ist?« schrie ich, doch meine Stimme senkte sich zu normaler Lautstärke, ganz intim, nur für ihn bestimmt.
»Ja«, lächelte er und führte mich über die Brücke. »Wenn wir ihn nun betreten, mußt du stark sein. Du mußt dir vor Augen halten, daß du - ungewöhnlich, wie das auch ist - in deinem erdgebundenen Körper steckst, deshalb werden deine Sinne überwältigt sein! Was du erleben wirst, wirst du nicht so gut ertragen können, als wenn du gestorben oder ein Engel wärest oder auch mein Stellvertreter, wie ich es mir wünsche.«
Doch es gab keine Zeit für Diskussionen. Zügig hatten wir die Brücke überschritten, gigantische Tore öffneten sich vor uns, so hoch, daß ich die Mauerkrone nicht sehen konnte. Der Lärm schwoll an und umfing uns, und wirklich, er war wie Gelächter, wie Wogen klingenden, leuchtenden Lachens, wie ein Choral, als sängen all die Lachenden gleichzeitig mit der ganzen Kraft ihrer Stimmen.
Was ich sah, überwältigte mich jedoch ebenso wie die Klänge. Dies hier war ganz einfach der am dichtesten besiedelte, lebhafteste und geschäftigste, der großartigste Ort, der mir je vor Augen gekommen war.
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