Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Orleans. Über uns an der Decke summten träge Ventilatoren, und der Boden war seit ewigen Zeiten nicht gereinigt worden. Langsam verblasste das Zwielicht, und die Luft füllte sich mit den Gerüchen des Viertels und dem süßen Duft nach Frühling. Wie wohltuend, dass sie diesen Treffpunkt ausgewählt hatte und dass es hier an einem derart himmlischen Abend so erstaunlich leer war! Merrick schaute mich unverwandt an, doch ihr Blick verlor nie seine Sanftheit.
»Louis de Pointe du Lac möchte jetzt also einen Geist sehen«, sagte sie nachdenklich, »als wenn er nicht schon genug litte.« Nicht nur ihre Worte waren mitfühlend, auch ihr leiser, vertraulicher Tonfall. Louis tat ihr Leid.
»Oh, ja«, fuhr sie fort, ohne mich zu Wort kommen zu lassen, »ich habe Mitleid mit ihm, und ich weiß, wie heftig er sich wünscht, das Gesicht des toten Vampirkindes zu sehen, das er so sehr geliebt hat.« Sie hob die Augenbrauen. »Du kommst mir mit Namen, die fast schon Legende sind. Du kommst aus deinem heimlichen Versteck, aus dem Übernatürlichen, kommst zu mir mit einer Bitte.«
»Erfülle sie, Merrick, wenn es dir nicht schadet«, sagte ich. »Ich bin nicht gekommen, um dir zu schaden, so wahr mir Gott helfe. Das weißt du doch sicherlich.«
»Und was ist, wenn dein Louis Schaden erleidet?«, fragte sie langsam. »Ein Geist kann denen, die ihn rufen, fürchterliche Dinge sagen, und hier geht es um den Geist eines Monsterkindes, das gewaltsam gestorben ist! Du verlangst etwas Schwerwiegendes, etwas Entsetzliches.« Ich nickte. Was sie auch sagte, es stimmte. »Louis ist davon besessen«, erklärte ich. »Und nach all den Jahren hat diese Besessenheit jede Vernunft ausgelöscht. Er denkt an nichts anderes mehr.«
»Und was, wenn ich sie tatsächlich aus dem Totenreich hervorholen kann? Glaubst du, dann löst sich der Schmerz der beiden in nichts auf?«
»Darauf kann ich nicht hoffen. Ich weiß es nicht. Aber alles ist dem Schmerz, den Louis im Moment erleidet, vorzuziehen. Natürlich habe ich kein Recht, dich darum zu bitten, habe nicht das Recht, überhaupt mit dir zusammenzutreffen. Aber wir sind dennoch allesamt darin verwickelt - die Talamasca, Louis, ich. Und ebenso der Vampir Lestat. Unmittelbar aus dem Schoß der Talamasca erfuhr Louis die Geschichte von Claudias Geist. Eine von unseren Leuten, eine Frau namens Jesse Reeves - du findest ihren Namen in den Archiven -, war vermutlich die Erste, der Claudias Geist erschien.«
»Ja, ich weiß davon«, antwortete Merrick. »Es war in der Rue Royale. Ihr hattet Jesse dorthin geschickt, damit sie Nachforschungen über die Vampire anstellte. Und Jesse Reeves kam mit einer Hand voll wertvoller Beweise dafür zurück, dass ein Kind namens Claudia, ein unsterbliches Kind, einst in der Wohnung gelebt hatte.«
»Ganz recht«, sagte ich. »Aber es war ein Fehler, Jesse den Auftrag zu geben. Jesse war zu jung. Jesse war nie …« Es fiel mir schwer, fortzufahren. »Jesse war nie so gescheit wie du.«
»Die Menschen lesen es in Lestats Romanen und halten es für eine Erfindung«, sagte sie, vor sich hin grübelnd. »Diese Geschichte von einem Tagebuch, von einem Rosenkranz - richtig? und einer alten Puppe. Und wir haben diese Sachen in Besitz, nicht wahr? Sie sind in den Stahlkammern in England. Damals hatten wir in Louisiana noch kein Mutterhaus. Du hast das alles selbst im Tresor untergebracht.«
»Kannst du mir meine Bitte erfüllen?«, fragte ich. »Wirst du es tun? Diese Frage kommt der Sache wohl näher. Dass du es kannst, daran zweifele ich nicht.«
Merrick zögerte mit der Antwort. Aber immerhin hatten wir einen guten Anfang gemacht, wir beide, sie und ich. Ach, wie sehr sie mir gefehlt hatte! Wieder mit ihr in ein Gespräch vertieft zu sein war erregender, als ich je erwartet hatte. Und mit geradezu närrischer Freude nahm ich ihre Veränderung wahr: Ihr französischer Akzent war vollkommen verschwunden, ihre Aussprache klang beinahe britisch, wohl durch ihre langen Studienjahre im Ausland. Einige dieser Jahre hatte sie mit mir in England verbracht.
»Du weißt, dass Louis dich gesehen hat«, sagte ich sanft. »Du weißt, dass er mich zu dir geschickt hat. Du weißt, dass er deine Fähigkeiten kennt, weil er die Warnung in deinen Augen sah.« Sie reagierte nicht darauf.
»›Ich habe eine echte Hexe gesehen‹ - mit diesen Worten kam er zu mir. ›Sie hatte keine Angst vor mir. Sie sagte, wenn ich sie nicht in Ruhe ließe, würde sie die Toten zu ihrem Beistand
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