Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
gestorben. Seine literarischen Ideale lagen im 18. Jahrhundert (nicht etwa im 19.), was für heutige Lesegewohnheiten befremdlich ist. Sein Markt waren die Pulpzeitschriften der amerikanischen Unterhaltungsliteratur, mit denen er einen ständigen Kampf um literarische Standards führte und die seine Geschichten gerne gnadenlos »modernisiert« und gekürzt hätten. Glücklicherweise hat Lovecraft aber auf die Wünsche seines Publikums keinerlei Rücksicht genommen, und ist so zum großen Klassiker des Unheimlichen im 20. Jahrhundert geworden, so wie es Edgar Allan Poe im 19. Jahrhundert war. Gerade als »erratischer Block«, als Fremdkörper in der Literatur, wurde Lovecraft nicht nur interessant, sondern auch zur bleibenden Herausforderung.
Und die bekannteste Spielart der Lovecraftschen Geschichten sind nun jene, die mit unserem etwas vagen Begriff »Cthulhu-Mythos« genannt wurden. Sie sind vielfach vernetzt: Tatsächlich hat man gesagt, dass alle Erzählungen des Cthulhu-Mythos als Kapitel eines einzigen großen Romans gelesen werden könnten. Vor allem aber sind sie verbunden durch ihre Leidenschaft für das Dunkle, Grausige, ihre Neugier.
Lovecrafts Stil ist wegen seiner Liebe für klingende Adjektive oft gerügt worden, aber er ist doch von erheblicher erzählerischer Raffinesse, vor allem in Hinsicht auf seine Erzählperspektive. Seine Ich-Erzähler (1. Person Singular ist häufig) wehren sich gegen ihre eigene Erkenntnis: Sie versuchen sozusagen noch einige Zeit, sich etwas vorzumachen, ehe sie von ihrer eigenen Erkenntnis des Schrecklichen überwältigt werden. Auch Erzählungen, die in 3. Person Singular geschrieben sind, setzen diesen Prozess der zögernden Einsicht um. Ein weiteres Stilmittel ist die Mehrdimensionalität des Unheimlichen: In der »Story« verbergen sich zahlreichen Andeutungen, die noch sehr viel Weitergehendes suggerieren als tatsächlich erzählt wird. Auf diese Feinheiten wird man oft erst bei einem zweiten und dritten Lesen aufmerksam.
Ist Lovecrafts Mythologie religiös? Sie ist es natürlich nicht in einem flachen und offensichtlichen Sinn. Lovecrafts Universum hat keinen guten Gott (und auch keinen bösen, denn Azathoth ist etwas anderes). Dennoch ist Lovecrafts Leidenschaft für das »Ganze«, für die Stellung des Menschen im Kosmos (ohne jeden New-Age-Kitsch) im Kern religiös, wie schon seinen Zeitgenossen auffiel und wie es etwa sein Freund Robert Bloch deutlich ausgedrückt hat. Daneben tritt die Verfremdung vieler traditioneller Motive. Robert M. Price hat schon vor Langem darauf hingewiesen, dass Lovecrafts »Götter« eigentlich Aliens sind. Man könnte Lovecraft insofern auch irgendwie in der Ahnenreihe der Präastronautik verordnen, etwa im Sinn eines Charles Hoy Fort (1874–1932), dessen Bücher er jedoch erst ab März 1927 kennenlernte. Allerdings hat er diese Ideen nur als literarische Vehikel benutzt und sich immer energisch von denen losgesagt, die ihm etwa okkulte oder fantastische Weltbilder unterstellen wollten: In seinem persönlichen Denken war Lovecraft dem wissenschaftlichen Positivismus und Historismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet, zugleich den neuen Entdeckungen am Beginn des 20. (Relativitätstheorie u.ä.), die er mit Faszination zur Kenntnis nahm, und lehnte jedes metaphysische Weltbild ab. In religiösen Fragen war er Atheist (kein Agnostiker).
Lovecrafts »Große Alte« und »Tiefe Wesen« (und wie sie sonst noch heißen) sind in diesem Sinn wirkliche »aliens« – völlig fremd, anders, sie sprengen die Grenzen dessen, was mit menschlicher Sprache ausgedrückt werden kann (das wird vielleicht am deutlichsten in ›The Colour Out of Space‹). Und so brechen sie in die heimelige Welt des vertrauten Neuengland ein. Diese zeichnet Lovecraft mit liebevollen Details und absoluter Realitätsnähe (z. B. existieren die meisten in Lovecrafts Erzählungen genannten Häuser wirklich). Dieser Kontrast zwischen »Nähe« und »Ferne«, »Vertrautem« und »Anderem« macht Lovecraft zu einem kosmischen Regionalschriftsteller, wenn wir eine paradoxe Begrifflichkeit wagen dürfen. Lovecrafts Obsession (bis zur Monomanie) ist Erkenntnis (nicht einfach Wissen). Seine Helden sind keine Actionfiguren, sondern Forscher, die mit einer unbezähmbaren Neugier selbst ihr eigenes Verderben in Kauf nehmen, um das Unbekannte zu erkunden. Dabei sind sie aber zugleich oft hilflos, ja eigentümlich gelähmt angesichts des Schrecklichen, das sie miterleben. In diesen
Weitere Kostenlose Bücher