Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
Träume in jener Nacht so wild waren; doch noch ehe der abnehmende und fantastisch gekrümmte Mond sich weit über der östlichen Ebene erhoben hatte, erwachte ich in kaltem Schweiß und beschloss, nicht weiterzuschlafen. Die Visionen, die ich erlebt hatte, waren zu viel, als dass ich sie hätte erneut ertragen können. Und im Schein des Mondes erkannte ich, wie unklug es von mir gewesen war, bei Tag zu wandern. Ohne die Glut der sengenden Sonne hätte meine Reise mich weniger Kraft gekostet, und tatsächlich fühlte ich mich nun dazu bereit, den Aufstieg vorzunehmen, der mich bei Sonnenuntergang noch so abgeschreckt hatte. Ich ergriff mein Bündel und machte mich auf zum Kamm der Anhöhe.
Ich habe gesagt, dass die ungebrochene Eintönigkeit der dahinwogenden Ebene ein Quell vagen Entsetzens für mich war; doch ich glaube, mein Entsetzen war größer, als ich den Gipfel des Hügels erreichte und auf der anderen Seite in einen unermesslichen Abgrund oder Felskrater hinabstarrte, dessen schwarze Winkel der Mond nicht erleuchten konnte, weil er noch nicht hoch genug am Himmel stand. Ich hatte das Gefühl, am Rande der Welt zu stehen und in ein bodenloses Chaos ewiger Nacht zu spähen. In meinem Entsetzen erinnerte ich mich merkwürdigerweise an das Verlorene Paradies und Satans schrecklichen Aufstieg durch das ungeformte Reich der Finsternis.
Als der Mond höher am Himmel stand, konnte ich erkennen, dass die Flanken des Tales nicht ganz so senkrecht abfielen, wie ich angenommen hatte. Felsvorsprünge boten leidlich gute Fußstützen beim Abstieg, während nach ein paar Hundert Metern der Abhang allmählich weniger steil verlief. Getrieben von einem Impuls, den ich nicht näher erklären kann, kletterte ich mit viel Mühe den Fels hinunter, kam auf dem sanfteren Abhang zum Stehen und blickte in den stygischen Abgrund, wohin noch kein Licht gedrungen war.
Sogleich wurde meine Aufmerksamkeit von einem gewaltigen und einzigartigen Gegenstand auf dem gegenüberliegenden Hang gefesselt, der sich ungefähr hundert Meter vor mir steil erhob; einem Gegenstand, der im Licht des aufsteigenden Mondes weißlich schimmerte. Schon bald machte ich mir klar, dass es sich dabei lediglich um ein gigantisches Stück Stein handelte; doch seine Konturen und seine Lage konnten nicht das Werk der Natur sein. Eine nähere Betrachtung erfüllte mich mit Empfindungen, denen ich keinen Ausdruck verleihen kann, denn trotz seiner enormen Größe und seines Standortes in einem Krater, der am Boden des Meeres geklafft hatte, seit die Welt jung war, erkannte ich ohne Zweifel, dass dieser sonderbare Gegenstand ein wohlgeformter Monolith war, dessen gewaltige Masse die Kunstfertigkeit und vielleicht auch die Verehrung lebender und denkender Geschöpfe erlebt hatte.
Verwirrt und verängstigt, obschon nicht ohne den gewissen Kitzel eines Wissenschaftlers oder Archäologen zu verspüren, untersuchte ich meine Umgebung etwas näher. Der Mond, der sich nun dem Zenit näherte, schien unheimlich und lebhaft auf die sich türmenden Steilhänge, die den Abgrund umsäumten, und offenbarte, dass ein breites Gewässer über den Boden strömte, welches sich in beiden Richtungen dem Blick entzog und mir fast an den Füßen leckte, als ich auf dem Hang stand. Auf der anderen Seite des Abgrundes umspülten die kleinen Wellen den Fuß des zyklopischen Monolithen, auf dessen Oberfläche ich nun sowohl Inschriften als auch krude Skulpturen erkennen konnte. Die Schrift bestand aus hieroglyphischen Zeichen, die mir nicht bekannt waren und nichts glichen, was ich je in Büchern gesehen hatte. Zum größten Teil bestanden sie aus vereinfachten Sinnbildern des Meeres wie etwa Fischen, Aalen, Kraken, Krustentieren, Mollusken, Walen und so weiter. Einige Schriftzeichen stellten offensichtlich Meerestiere dar, die der heutigen Welt nicht bekannt sind, deren verwesende Leiber ich aber auf der aus dem Meer erstandenen Oberfläche gesehen hatte.
Es waren jedoch die gemeißelten Bildwerke, die mich am meisten in ihren Bann zogen. Über das dazwischen liegende Gewässer hinweg war wegen ihrer gewaltigen Größe eine Reihe von Flachreliefs zu sehen, deren Anblick den Neid eines Doré erregt hätte. Ich glaube, diese Dinge sollten Menschen darstellen – zumindest eine gewisse Art von Menschen, wenngleich die Geschöpfe gezeigt wurden, wie sie sich Fischen ähnlich im Wasser einer Meeresgrotte tummelten oder einen monolithischen Schrein anbeteten, der ebenfalls unter Wasser zu sein
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