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Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Titel: Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
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Imaginative Künstler gab es nur wenige und sie haben nie Anerkennung gefunden. Blake wird schmerzlich unterschätzt. Poe wäre nie verstanden worden, hätten sich nicht die Franzosen die Mühe gemacht, ihn aufzuwerten und zu interpretieren. Dunsany wurde nichts als Kälte oder lauwarmes Lob entgegengebracht. Und neun von zehn Menschen haben nicht einmal gehört von Ambrose Bierce, dem größten Erzähler, den Amerika – abgesehen von Poe – je besaß. Der imaginative Schriftsteller widmet sich der Kunst in ihrem essenziellen Sinn. Es ist nicht sein Geschäft, eine hübsche Kleinigkeit für Kinder zu produzieren, eine nützliche Moral aufzuzeigen, oberflächlich »erhebendes« Zeug für den verspäteten Viktorianer zusammenzubrauen oder unlösbare menschliche Probleme didaktisch aufzuwärmen. Er ist ein Maler der Stimmungen und Bilder des Geistes – die sich entziehenden Träume und Fantasien fängt er ein und baut er aus – er ist ein Reisender in jene unbekannten Länder, die nur selten durch den Schleier des Tatsächlichen hindurch erblickt werden, und nur von dem wahrhaft Empfänglichen. [...] Er kann alle Stimmungen aufnehmen, seien sie licht oder dunkel. »Gesundheit« und »Nützlichkeit« sind ihm fremde Worte. Er spiegelt die Strahlen, die auf ihn fallen, fragt aber nicht nach ihrem Ursprung. Er ist nicht »praktisch« – armer Kerl – und manchmal stirbt er in Armut; schließlich leben alle seine Freunde in der Stadt des Niemals [»city of never«] im Land des Sonnenuntergangs, oder in den antiken Felsentempeln von Mykenae oder den Höhlen und Katakomben von Ägypten und Meroë. [...] Nun liegt es mir fern, mich selbst für einen solchen imaginativen Künstler zu halten. Es ist mein Privileg, aus dem Abgrund der Mittelmäßigkeit heraus zu bewundern, und im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten nachzuahmen. Doch kann das, was ich über imaginative Literatur gesagt habe, erklären, was ich mühsam und mit wenig Erfolg zu erreichen versuche.« Diese Sätze sind Lovecrafts Poetologie in nuce. Sie zeigen, wie reflektiert er als Erzähler vorging.
    ›Dagon‹ erschien zuerst in der kleinen Zeitschrift The Vagrant, November 1919, dann in Weird Tales, Oktober 1923 (und noch einmal Januar 1936). Das Thema der unheimlichen Meerestiefen hat Lovecraft wenig später in ›The Temple‹ und anderen Geschichten wieder aufgenommen, auch solchen des Cthulhu Mythos (vor allen in ›The Call of Cthulhu‹ selbst, weiter unten in diesem Band).
    Man kann die Geschichte wenn man will als suizidale, kulturkritische Fantasie lesen: Aus dem Meer, aus der »Tiefe« kommt etwas, das das normale Leben als nicht mehr möglich erscheinen lässt. Für uns aber ist sie ein kreativer Beginn für die Entfaltung einer eigenen Mythologie, die sich dann freilich in ganz anderen Bahnen entwickelte. Das wird etwa bei einem Vergleich mit ›The Call of Cthulhu‹ deutlich. Die Tiefe des Meeres ist natürlich auch ein Symbolraum: ein Ort, an dem die Gesetze der menschlichen Zivilisation nicht gelten, wo uns das »ganz andere« begegnen kann, zugleich ein Sinnbild für die »trockengelegten« Tiefen und Abgründe der Seele. Und genau davon handelt ›Dagon‹.

Dagon
    Ich schreibe dies unter beträchtlicher geistiger Anspannung, denn heute Nacht werde ich nicht mehr unter den Lebenden weilen. Ohne einen Penny und am Ende des Vorrats der Droge, welche allein mein Leben erträglich macht, kann ich die Pein nicht länger erdulden; ich werde mich aus diesem Mansardenfenster auf die schmutzige Straße darunter stürzen. Leite aus meiner Morphiumabhängigkeit nicht ab, ich sei ein Schwächling oder degeneriert. Wenn du diese hastig hingekritzelten Seiten gelesen hast, magst du zwar erahnen, aber nie gänzlich begreifen, warum ich das Vergessen oder den Tod suchen muss.
    Es war auf einer der offensten und am wenigsten befahrenen Stellen des weiten Pazifik, dass der Dampfer, für den ich als Frachtaufseher verantwortlich war, einem deutschen Kaperschiff zur Beute fiel. Der Große Krieg hatte erst jüngst seinen Anfang genommen, und die Seestreitkräfte der Deutschen waren noch nicht so völlig aufgerieben, wie sie es später sein sollten; daher wurde unser Schiff als rechtmäßige Beute betrachtet, während wir von der Mannschaft mit all dem Anstand und der Rücksicht behandelt wurden, die uns als kriegsgefangenen Matrosen zustand. Tatsächlich war die Aufsicht unserer Wächter so großzügig, dass es mir fünf Tage nach unserer Gefangennahme

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