Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
schließlich vergaßen sie, dass es solche Ängste und Abneigungen überhaupt gegeben hatte. Die meisten wussten nur noch, dass man gewisse hüglige Regionen als höchst ungesund, unrentabel und überhaupt ungünstig für die Besiedlung einschätzte und man sich am besten von ihnen fernhielt. Im Laufe der Zeit hatten Gewohnheit und wirtschaftliches Interesse in den für gut erachteten Gegenden so tief Wurzeln geschlagen, dass es gar keinen Grund mehr gab, sie zu verlassen, und so verwaisten die gespenstischen Berge mehr aus Zufall denn aus fester Absicht. Abgesehen von unregelmäßig auftretenden lokalen Schreckgeschichten wussten nur noch wundergläubige Großmütter und erinnerungsselige alterslose Greise von Geschöpfen, die in den Bergen hausten; und selbst solche Leute gaben zu, dass man nun nicht mehr viel von diesen Wesen zu befürchten habe, da sie sich an die Häuser und Siedlungen gewöhnt hätten und die Menschen ihr gewähltes Territorium in Frieden ließen.
Von alldem wusste ich seit Langem durch meine Lektüre und aus gewissen Volksmärchen, die ich in New Hampshire aufgeschnappt hatte; als nach der Flutwelle Gerüchte aufkamen, konnte ich daher ohne Probleme erraten, auf welch fruchtbarem Boden sie gediehen waren. Ich gab mir große Mühe, dies meinen Freunden zu erklären, und war dementsprechend amüsiert über die Hartnäckigkeit, mit der einige streitsüchtige Zeitgenossen trotz allem in den Berichten einen wahren Kern erkennen wollten. Diese Personen versuchten darzulegen, dass den frühen Legenden eine bemerkenswerte Langlebigkeit und Einheitlichkeit zu eigen war und dass es nicht klug sei, dogmatische Behauptungen darüber aufzustellen, was in den Bergen von Vermont leben mochte oder nicht – schließlich waren diese noch größtenteils unerforscht. Auch konnte ich sie nicht mit meiner Versicherung zufriedenstellen, dass alle diese Mythen einem wohlbekannten, auf der ganzen Welt vorkommenden Muster entsprächen und in einer frühen Phase der Entwicklung unserer Vorstellungskraft geprägt worden seien, sodass sie stets die gleiche Art von Sinnestäuschungen hervorriefen.
Es war sinnlos, meinen Widersachern beweisen zu wollen, dass die Mythen aus Vermont im Wesentlichen nur geringfügig von den weltweit verbreiteten Legenden über personifizierte Naturkräfte abwichen, die die Welt der Antike mit Faunen, Dryaden und Satyrn bevölkert, die kallikanzarai des neuzeitlichen Griechenland hervorgebracht und dem urtümlichen Wales und auch Irland die finsteren Sagen von merkwürdigen zwergenhaften und fürchterlichen verborgenen Völkern von Höhlenbewohnern gegeben hatten. Ebenso vergeblich war es, auf den verblüffend ähnlichen Aberglauben der nepalesischen Bergstämme hinzuweisen, die sich vor dem Mi-Go, dem ›abscheulichen Schneemenschen‹, fürchten, der inmitten des Eises und der Felsschründe der Himalaya-Gipfel lauert. Als ich diesen Beweis anführte, kehrten meine Widersacher ihn gegen mich und behaupteten, dies spräche für die geschichtliche Wahrheit der alten Sagen und weise auf die tatsächliche Existenz einer fremdartigen älteren Rasse von Erdbewohnern hin, die vom Erscheinen und der Vorherrschaft der Menschheit gezwungen gewesen sei, im Verborgenen zu hausen, und womöglich in kleiner Anzahl bis in jüngste Zeit überlebt habe – vielleicht sogar bis zum heutigen Tag.
Je mehr ich über solche Theorien lachte, desto hartnäckiger hielten meine starrköpfigen Freunde an ihnen fest. Sie fügten noch hinzu, die jüngsten Berichte seien auch ohne die überlieferten Legenden viel zu eindeutig, in sich geschlossen, detailliert und nüchtern geschildert, als dass man sie einfach ignorieren könnte. Zwei oder drei Fanatiker gingen gar so weit, anzudeuten, die alten indianischen Legenden wiesen auf einen außerirdischen Ursprung der verborgenen Wesen hin, und führten die versponnenen Bücher von Charles Fort an, in denen behauptet wird, Reisende von anderen Welten hätten schon oft die Erde besucht. Die meisten meiner Gegner waren jedoch bloße Romantiker, die nur zu gern die fantastische Sage von dem ›kleinen Volk‹, das durch die hervorragenden Schauergeschichten Arthur Machens bekannt geworden ist, ins wirkliche Leben übertragen hätten.
II
Unter den gegebenen Umständen war es unvermeidlich, dass die pikante Debatte schließlich in Form von Leserbriefen an den Arkham Advertiser ihren Weg in die Presse fand. Einige der Briefe wurden in den Zeitungen der Gebiete von Vermont
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